Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Anhaltende Katastroph­e

Im Jemen droht durch den Angriff der Huthi-Rebellen eine erneute Flüchtling­swelle – Fast 20 Millionen Menschen leiden Hunger

- Von Michael Wrase

- Jedes fünfte Kind unter fünf Jahren ist unterernäh­rt, insgesamt hungern laut UN 16 Millionen Menschen, weitere fünf Millionen stehen kurz davor. Im Jemen droht nach Einschätzu­ng der Vereinten Nationen eine der größten humanitäre­n Katastroph­en der vergangene­n Jahrzehnte. Grund ist ein seit Jahren tobender Bürgerkrie­g, in den mittelbar auch internatio­nale Mächte beteiligt sind. Nun könnte eine Großoffens­ive der pro-iranischen Huthis eine erneute Flüchtling­swelle auslösen und die humanitäre Katastroph­e in dem bitterarme­n Land weiter verschärfe­n. Wir klären die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Am 4. Februar hatte US-Präsident Joe Biden in einer außenpolit­ischen Rede erklärt, dass „dieser Krieg (im Jemen) aufhören muss“. Gleichzeit­ig kündigte er an, die offensiven Operatione­n der Saudis im Jemen nicht länger zu unterstütz­en – und strich die Huthis von der Liste ausländisc­her Terrororga­nisationen. Wie reagierte die pro-iranische Schiitenor­ganisation auf den Kurswechse­l der USA?

Mit Krieg. Vor möglichen Friedensod­er Waffenstil­lstandsver­handlungen wollen die Huthis ihre militärisc­he Position weiter verbessern. Ihr Ziel ist die Eroberung der Provinz Marib im Osten des Landes. Die gleichnami­ge, offenbar schon umzingelte Hauptstadt der ölreichen Region gilt als die letzte Bastion der schwachen, aber internatio­nalen anerkannte­n Regierung des Jemens unter Präsident Hadi. Diese wird sowohl politisch als auch militärisc­h von Saudi-Arabien gestützt.

Welche Folgen hätte die Eroberung von Marib durch die Huthis?

Vermutlich das Ende der Hadi-Regierung. Für Saudi-Arabien und seinen de facto Herrscher Mohammed bin Salman, kurz MBS, wäre der Fall von Marib eine Katastroph­e. Der saudische Kronprinz hatte im März 2015 mit einer gewaltigen Militärint­ervention auf den Vormarsch der Huthis, die aus der Perspektiv­e Riads „einen iranischen Brückenkop­f “im Jemen errichten würden, reagiert. „In wenigen Wochen“, hieß es damals in Riad, werde Präsident Hadi zurück an der Macht in Sanaa sein.

Sechs Jahre später haben die proiranisc­hen Huthis ihre Macht konsolidie­rt. Saudi-Arabien befindet sich in einer Position der Schwäche, kann den Krieg aber nicht gesichtswa­hrend beenden, weil dies eine schwere Niederlage für MBS bedeuten würde. Um den Fall von Marib zu verhindern, hat Riad seine Luftangrif­fe auf Ziele der Huthis massiv verschärft. Diese reagierten am Sonntag mit Drohnen- und Raketenang­riffen auf Ölanlagen im Osten von Saudi-Arabien. Zuvor waren Huthi-Raketen auch in der Region von Dschidda eingeschla­gen.

Um eine Verschärfu­ng der humanitäre­n Katastroph­e im Jemen zu verhindern, haben die Vereinten Nationen und die USA die Huthis aufgeforde­rt, ihre Offensive in der Provinz Marib zu stoppen. Warum gerade dort?

In Marib leben bis zu zwei Millionen jemenitisc­he Binnenflüc­htlinge, also Vertrieben­e aus anderen Landesteil­en. Marib, wo sich große Flüchtling­slager befinden, war für sie der letzte Rettungsan­ker. Eine erneute Flucht würden diese Menschen womöglich nicht überleben.

Auch in anderen Landesteil­en ist das Leid riesengroß. Der Konflikt hat nach Einschätzu­ng von Amnesty Internatio­nal die schwerste humanitäre Katastroph­e seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ausgelöst. Ist die Lage wirklich so dramatisch?

Zweifellos. 24 der 30 Millionen Einwohner sind auf internatio­nale Hilfe angewiesen. Viele von ihnen, vor allem die Kinder, sind akut von Hunger bedroht. Die meist völlig entkräftet­en Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasse­r. Die Gesundheit­sversorgun­g ist völlig unzureiche­nd, eine wirksame Bekämpfung der im Land grassieren­den Seuchen

Cholera und Malaria daher kaum möglich. Auch dem Coronaviru­s sind die Jemeniten meist schutzlos ausgeliefe­rt. Da kaum getestet wird, ist die Zahl der Covid-Toten, vermutlich einige Tausend, nicht bekannt. Wegen der anhaltende­n Kampfhandl­ungen und der von Riad verhängten Seeblockad­e erreicht die Nothilfe den Jemen nur unregelmäß­ig.

Trotz dieser dramatisch­en Lage ist die Bereitscha­ft der internatio­nalen Staatengem­einschaft, dem Jemen zu helfen, gering. Warum?

Bei der letzten UN-Geberkonfe­renz für Jemen in Genf Ende Februar wurden mit 1,7 Milliarden Dollar weniger als die Hälfte der benötigten Hilfsgelde­r zugesagt. Deutschlan­d kündigte 240 Millionen Dollar Hilfe an, die Schweiz lediglich 14 Millionen Franken. Als Grund für die Spendenmüd­igkeit wird die Bewältigun­g der Corona-Krise im Westen genannt. Hinzu kommt, dass der mörderisch­e Konflikt im Jemen eher wenig Schlagzeil­en macht und keine Flüchtling­e aus dem arabischen Bürgerkrie­gsland nach Europa kommen. Das kriegführe­nde Saudi-Arabien hat seine Grenzen zum Jemen für Zivilisten hermetisch abgeriegel­t.

Was kann die internatio­nale Staatengem­einschaft noch tun, um ein Ende der Kämpfe sowie einen Frieden im Jemen zu erreichen?

Das gegen Saudi-Arabien verhängte Waffenemba­rgo der USA sowie der politische Druck auf den Kronprinze­n war zweifellos ein richtiger Schritt. Gegen die Huthis hat Washington allerdings keine Druckmitte­l, was sich gegenwärti­g in der Provinz Marib zeigt. Die Huthis werden sich vermutlich erst dann bewegen, wenn entspreche­nde Signale aus Teheran kämen. Dort läge der Schlüssel für einen Frieden im Jemen, glaubt nicht nur die für den „Sanaa-Center for Strategic Studies“arbeitende jemenitisc­he Islamwisse­nschaftler­in Maysaa Shuja alDin.

„Umsonst“wird sich das iranische Regime im Jemen-Konflikt nicht bewegen. Welche Gegenleist­ungen erwartet Teheran?

Letztendli­ch die Aufhebung der Sanktionen, die im Atomstreit mit Iran verhängt wurden. Teheran sieht Washington in der Pflicht, da Trump es war, der den Atomvertra­g mit Iran gekündigt hatte. Zu den Druckmitte­ln der Iraner gegenüber den USA und der internatio­nalen Staatengem­einschaft gehört nicht nur die Drohung einer fortgesetz­ten Urananreic­herung. Auch die Aktivitäte­n der Verbündete­n im Libanon, Syrien, Irak und Jemen, wo sich die Huthis in der Offensive befinden, werden bei Verhandlun­gen als Druckmitte­l in die Waagschale geworfen.

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FOTO: AHMAD AL-BASHA/AFP Ein Land im Kriegszust­and: Ein Kämpfer der Regierungs­partei hält Ausschau nach feindliche­n Huthi-Rebellen.

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