Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Der doppelköpfige Adler lügt
Russlands Propaganda hat Deutschland im Visier – Datenbank sammelt 700 Fälle von Fake News
- An den „Fall Lisa“werden sich viele noch erinnern. Die 13-Jährige wurde im Januar 2015 von der Familie zunächst als vermisst gemeldet, tauchte aber nach 30 Stunden wieder auf. Ermittlungen ergaben, dass sie eine Entführungs- und Vergewaltigungsgeschichte vorgetäuscht hatte, um ihre Eltern zu besänftigen. Dennoch hielten russische Medien an der Version fest, sie sei von „Flüchtlingen“missbraucht worden. Russlands Außenminister Sergej Lawrow schaltete sich ein und warf den deutschen Behörden Vertuschung vor.
Seither hat die Datenbank EUvsDisinfo, die vom Europäischen Auswärtigen Dienst betrieben wird, 700 ähnliche Fälle gesammelt. Damit ist Deutschland in der EU die Hauptzielscheibe russischer Medienkampagnen und Fake News. In Frankreich wurden im gleichen Zeitraum 300 Fälle entdeckt, in Italien 170 und in Spanien 40. In einer heute veröffentlichten Untersuchung wird aufgezeigt, wie russische Medien und Politiker vorgebliche Belege für eine antirussische Stimmung in Deutschland zusammentragen, dabei aber einzelne russlandfreundliche Politiker ausdrücklich ausnehmen.
Am 18. Februar sagte eine Sprecherin von Lawrow: „Deutschland war eigentlich ein Motor positiver deutsch-russischer Initiativen. Doch das hat sich geändert. Unter deutscher Ratspräsidentschaft beschloss die EU nicht nur eine, sondern eine ganze Serie von antirussischen Sanktionen. Das bestätigt ganz klar, dass Deutschland auf EU-Ressourcen zurückgreift, um unser Land zu unterdrücken.“Seit Kreml-Kritiker Alexej Nawalny nach einer Vergiftung auf russischem Boden in Berlin behandelt wurde, hat sich das Klima zwischen Moskau und Berlin verschlechtert. Nach dem Eklat während der Moskaureise des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell wurde der Ton noch einmal schärfer. Mehrere Diplomaten, darunter ein deutscher, waren ausgewiesen worden, als Borrell noch mit Lawrow am Tisch saß.
Seither versuchen mehrere Medien, Nawalnys Frau Julia als deutsche Marionette und Spionin hinzustellen. Als Beleg wurde über eine Deutschlandreise berichtet und am 26. Februar ein gefälschtes Reisedokument veröffentlicht, das belegen soll, Nawalnaja habe die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. „Warum
bist Du hingefahren, Nawalnaja?“, fragt Vladimir Solovyov, ein bekannter Fernsehmoderator. „Solltest Du Instruktionen erhalten, die man nicht per Telefon weitergeben möchte?“Obwohl die Bundesrepublik erklärte, der Pass sei eine Fälschung, gehen die Verdächtigungen weiter. Mehrere Medien führten als Beleg „anonyme hohe Stasioffiziere mit Zugang zu Polizeidatenbanken“an.
Seit Anfang Februar gibt es aus Sicht der einschlägigen russischen Medien einen neuen „Fall Lisa“. In Berlin hat das Jugendamt einer Familie drei Kinder entzogen, deren Wohl aus Behördensicht gefährdet war.
Dazu schreibt die Nachrichten-Website kp.ru: „Die Kinder sind derzeit in einem Waisenhaus, und das Gericht, das den Fall verhandeln wird, ist offensichtlich voreingenommen. Als die Familie den illegalen Druck der Behörden spürte, versuchten sie die Papiere zusammenzubekommen, um nach Russland zurückzukehren. Aber zu spät.“Und die nationalistische Website Tsargrad kommentiert: „In der Sowjetunion würde es niemals geschehen, dass Polizisten in eine Familienwohnung eindringen, wie sie es in Europa und den USA tun, unter dem Vorwand der ‚Kinderrechte‘. Was, wenn die Kinder in die Obhut von Pädophilen oder Perversen gegeben werden?“
Bislang beschränkt sich die Kampagne auf die russische Öffentlichkeit. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie in die für Verschwörungstheorien sehr anfällige russlanddeutsche Community durchsickert. Mit einer plakativ aufgemachten Website versucht EUvsDisinfo zwar gegenzusteuern, dürfte aber kaum die gleiche Zielgruppe erreichen wie der sehr populäre Sender RT (der früher Russia Today hieß). Den Bericht über die antideutsche Kampagne ziert ein verfremdeter russischer Doppelkopf-Adler, der statt Zepter und Schwert in der einen Kralle einen mit Nägeln gespickten Baseballschläger, in der anderen ein Laserzepter hält.
EUvsDisinfo analysiert seit fünf Jahren Nachrichten aus dem Kreml nahestehenden Medien in 15 Sprachen, filtert Fake News heraus und dokumentiert einzelne Kampagnen. Seit 2019 wurde die Arbeit auf den Westbalkan und Nordafrika ausgedehnt. Nach eigenen Angaben ist EUvsDisinfo die einzige öffentlich zugängliche Quelle dieser Art mit Suchfunktion und mehr als 6500 Fallbeispielen. Sie wird wöchentlich aktualisiert.