Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Le Corbusiers heimlicher Star
Eine bilderreiche Biografie und eine Graphic Novel rücken das Leben und Wirken der französischen Architektin Charlotte Perriand in den Mittelpunkt
PARIS - Es gibt zwei Fotografien von Charlotte Perriand, die eine Menge über diese immer noch zu entdeckende Designerin und Architektin erzählen. Einmal reckt sie die Arme über ihrem nackten Rücken in die Höhe, als wollte sie in die verschneite Bergwelt hineinjubeln. Um den Hals trägt sie eine Kette aus Kugellagerkugeln; um 1930 war das für eine Französin schon frech. Was hier aber zum Ausdruck kommt, ist die Sportlichkeit dieser passionierten Skifahrerin und mehr noch eine tiefe Verbundenheit mit der Natur.
Während ihre Zeitgenossen ganz rational-funktional in Beton, Stahl und Glas dachten und sich erst spät – korrigierend – wieder auf die Natur zurückbesannen, hatte Charlotte Perriand immer schon auf organische Formen und Materialien gesetzt und dabei das Funktionale nicht aus den Augen verloren. Die 1903 geborene Pariserin, die in ihrer Kindheit viel Zeit bei den Großeltern in Savoyen verbracht hatte, nahm nie Abstand von der „campagne“mit ihren Bauern, die keinen Sinn darin sahen, sich alle paar Wochen eine neue Garderobe zuzulegen und die Wohnung umzudekorieren.
Verschwendung, fand die Perriand. Dabei war sie Schönem partout nicht abgeneigt. Doch es musste praktisch sein, zu den Benutzern passen, und die sollten sich damit wohlfühlen. In besonderem Maße tun das zum Beispiel die Skiurlauber, die seit den 1960er-Jahren in der Ferienanlage von Les Arcs in den französischen Alpen unterkommen. Die Vorzüge reichen von der offenen Küche, die die Familie im Gespräch hält, bis zu genau bemessenen Skischuhregalen. Dass die Stiefel immer höher wurden, hat die um platzsparende Lösungen bemühte Planerin kurz vor ihrem Tod 1999 für einen Moment aus der Fassung gebracht. Mit solchen Neuerungen konnte sie nicht rechnen.
Die zweite der eingangs erwähnten Fotografien verbindet man schon eher mit einer Designerin: Charlotte entspannt 1928 auf der „Chaise longue B 306“. Die Beine hat sie hochgelagert, das wollte man damals den Frauen nicht zugestehen. Aber das ist der Clou dieses Möbels, das heute in allen einschlägigen Museen zu bewundern ist. Allerdings steht oft genug nur „Le Corbusier“dabei. Der Stararchitekt war geübt darin, überall seinen Namen zu platzieren. Bei der Anmeldung zum Patent änderte er kurzerhand die korrekte Reihenfolge, obwohl gerade er es besser wusste. Le Corbusier hatte Perriand im Jahr zuvor als Assistentin ins Atelier
geholt. Er brauchte sie dringend für die Innengestaltung seiner Bauten. Vor allem bei den Möbeln drohten ihn die Bauhäusler endgültig abzuhängen. Doch dafür hatte der Meister weder die Zeit noch die Voraussetzung.
Le Corbusier, der mit dem „Modulor“ein am Menschen orientiertes Proportionsschema austüfteln sollte, wusste nicht einmal, wie man in seinen schicken Hüllen wirklich wohnen und nicht nur fürs Hochglanzmagazin posieren konnte. Perriand entwarf neben der tatsächlich erholsamen Chaiselongue gleich noch den schwenkbaren Freischwinger „Fauteuil pivotant B 302“und damit wieder so ein Stück, das in die Designgeschichte einging. Genauso wichtig sind ihr freilich die Bettgestelle mit Regalfächern für ein Kinderheim der Heilsarmee.
Die Arbeit dieser unabhängigen, nie korrumpierbaren Gestalterin war immer mit einem leidenschaftlichen sozialen Engagement verbunden. Ihr Herz schlug links, zeitweise liebäugelte sie mit dem Kommunismus. Und hätte die Perriand nur ein bisschen mehr nach Prestige gestrebt – die Männer um sie herum hatten es ja vorgemacht –, sie wäre lange nicht nur ein Fall für die engeren Fachkreise geblieben. Das hat im letzten Jahr die Retrospektive in der Pariser Fondation Louis Vuitton deutlich unterstrichen, und das ist auch in der bilderreichen Biografie von Laure Adler bis in die einzelnen Projekte hinein zu verfolgen.
Perriand hatte kein Architektendiplom, das zwang die Absolventin der Pariser Kunstgewerbeschule Union Centrale des Arts Décoratifs, sich mit Partnern zusammenzutun. Bei Mies van der Rohe war das übrigens nicht anders. Doch die Tochter eines kreativen Schneiderehepaars störte sich nicht an solchen Kleinigkeiten,
sie war an Inhalten interessiert und nicht an Zertifikaten.
Dass Le Corbusier ihr bei der Vorstellung ein machohaftes „Wir besticken hier keine Kissen“entgegenwarf, überging sie nonchalant. Immerhin war er auf sie zugekommen, nachdem ihm ihre sensationelle „Bar unterm Dach“mächtig imponierte. Perriand hatte sie aus vernickeltem Kupfer und Aluminium für den Pariser Herbstsalon entworfen. Das gefiel dem Talentscout, und bald wurde die junge Mitarbeiterin eine feste Größe in seinem Team.
Er ließ sie machen, doch Le Corbusiers Großspurigkeit und seine Ausrichtung wollten irgendwann nicht mehr mit ihrer Einstellung zusammengehen. Die politischen Differenzen lagen auf der Hand, eine Einladung aus Japan kam da gerade recht. Dass 1940 Krieg war, konnte sie nicht hindern, in den Fernen Osten aufzubrechen. Es sollten zwei prägende Jahre werden, die Charles Berberian in seiner Graphic Novel mit feiner Ironie beleuchtet.
Denn natürlich stößt Perriand die Japaner vor den Kopf. Mit einer Frau, die so klar den Ton angibt, können sie nicht umgehen, zumal ihre Erwartungen nicht erfüllt werden. Perriand soll Handel und Industrie beraten, um den Absatz von Kunsthandwerk zu steigern. Doch auf westlich orientierten Kitsch hat sie keine Lust. Vielmehr erkundet die Französin das Land und findet alte Handwerker, die Tatamis, das sind Reismatten, oder Papier herstellen. Und sie jagt ihre völlig untrainierten Studenten die Berge hinauf, um ihnen ein Gefühl für die Natur zu vermitteln.
Perriand bringt schließlich ihre Auftraggeber in der japanischen Handwerkskammer dazu, sich auf die Tradition zu besinnen. Genauso lässt sie sich selbst von der Schlichtheit und den natürlichen Materialien inspirieren. Auch nach der Rückkehr aus Asien hält die große Gestalterin an Werkstoffen wie Bambus fest – das irritiert wiederum die Europäer. Doch mit ihren Entwürfen und ihrem mitreißenden Wesen kann Charlotte Perriand bis ins hohe Alter überzeugen. Ihr Prinzip ist ja auch zu bestechend: „Besser einen Tag in der Sonne verbringen, als unnötige Dinge abstauben.“
Laure Adler: „Ihr Leben als moderne und unabhängige Frau“(Elisabeth Sandmann Verlag, 192 Seiten, 44 Euro);
Charles Berberian: „Charlotte Perriand. Eine französische Architektin in Japan 1940-1942“
(Reprodukt, 112 Seiten, 20 Euro)