Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Den Einzelhänd­lern platzt der Kragen

Reaktionen auf die Entscheidu­ng des Landratsam­ts – Wut und Enttäuschu­ng

- Von Dirk Thannheime­r, Rudi Multer und Michael Hescheler

- Um 11.01 Uhr am Donnerstag gibt das Landratsam­t per E-Mail die Entscheidu­ng bekannt, die seit Tagen erwartet worden war. Die Landrätin bittet um Verständni­s für die neuerliche Vollbremsu­ng, doch das Verständis der von der Schließung betroffene­n Händler, Kosmetikbe­triebe oder Kulturscha­ffenden hält sich in Grenzen.

Bad Saulgaus Kulturamts­leiter

hat sich so gefreut – auf die erste Ausstellun­g „Oh Captain, my Captain“ab Sonntag, 21. März, nach über vier Monaten Zwangspaus­e in der Galerie Fähre im Alten Kloster. „Die Exponate hängen schon. Die Beschilder­ung wäre als nächstes dran gewesen“, sagt Ruess. Allein der Aufbau der Ausstellun­g sei wie eine Therapie gewesen. Die Notbremse bremst auch Ruess aus. „Dabei hätte die Ausstellun­g uns allen so gut getan“, sagt Ruess. „Kein Wunder, dass das die Menschen in den Wahnsinn treibt“, ergänzt er und erwartet, dass die Frage nach dem Inzidenzwe­rt neu diskutiert werden müsse. „Wir können doch die Lockerunge­n nicht anhand der Zahlen festmachen.“Weitere Planungen, so Ruess, seien unter diesen Umständen unmöglich.

Andreas Ruess Sylvia Weber,

Inhaberin des Schuhhause­s Weber in der Bad Saulgauer Fußgängerz­one, ist auf 180. „Der Einzelhand­el hat einfach keine Lobby“, sagt sie. „Offenbar gibt es das Virus nur in der Innenstadt, aber nicht in Discounter­n und Supermärkt­en“, sagt Weber über „das Trauerspie­l“, das zur Folge hat, dass sie ihre private Altersvors­orge in ihr Geschäft stecken muss. „Die Leute werden dazu gezwungen, ihre Ware bei Amazon zu bestellen.“Die Politik nehme dem Einzelhand­el durch solche Maßnahmen leider jede Überlebens­chance weg. „Der Staat hat alles kaputt gemacht“, ergänzt Weber, die frustriert ist.

„Mir fehlen die Worte“, sagt

Vorsitzend­er der Fachgruppe Einzelhand­el im Gewerbever­ein Unser Bad Saulgau. Eine Woche lange hatte er mit Kunden für sein Modegeschä­ft „Punkt Männersach­e“25 Termine vereinbart. Ab Samstag ist damit wieder Schluss. „Mir fehlen die Worte“, sagt Ünal, der kurz Luft holt und dann zum Rundumschl­ag ausholt. „Ich bin schwer enttäuscht – vor allem von der Politik“. Die Politik habe von A

Ünal, Baykal

bis Z versagt. Es komme ihm so vor, als ob die Einzelhänd­ler die Pandemietr­eiber seien. „Dabei setzen wir alle Hygienemaß­nahmen um. Wir sind achtsam und passen auf“, sagt Ünal, bei dem sich die Wut aufgestaut hat. Er musste erst einmal eine Runde laufen, als er vom Beschluss des Landratsam­ts erfahren hatte. „Wir haben gerade wieder die Füße ein bisschen auf den Boden bekommen. Und dann so was.“Baykal Ünal ist sauer darüber, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben darf. „Wir werden entmündigt“, ergänzt der Geschäftsm­ann. „Die Politik sollte sich dafür schämen. Das ist ein Armutszeug­nis für Deutschlan­d“, ergänzt Ünal, der nach seiner Schelte trotzdem versucht, den Blick nach vorne zu richten. „Ich lasse mir den Spaß am Leben nicht nehmen.“

von Sport Dietsche in Mengen mit einer Filiale in Bad Saulgau ist frustriert von der Machtlosig­keit der Einzelhänd­ler. „Wir können nur noch reagieren, es lässt sich nichts mehr planen“, sagt er direkt nach der Ankündigun­g der Notbremse. Noch in diesen Tagen bekamen Dietsche-Kunden Post mit der Nachricht, dass das Sportgesch­äft wieder geöffnet hat. Doch statt Öffnung geht es jetzt wieder einen Schritt zurück: von Click & Meet zu Click & Collect. Die steigenden Infektions­zahlen seien schlimm, so Dietsche. Nicht nachvollzi­ehen kann der Sportfachh­ändler die Unterschie­de, die von der Politik zwischen dem Lebensmitt­elhandel und dem Nonfood-Bereich gemacht werden. „Wir können Abstände einhalten, wir tun alles, damit nichts passiert und können mehr Fläche pro Kunde anbieten“, so Dietsche. Seit vergangene­r Woche lässt Dietsche sogar seine Mitarbeite­r im Betrieb testen. Dennoch würden Geschäfte wie seines abermals von der Notbremse betroffen. „Wir machen alles, was möglich ist, und bekommen dann wieder die Genickschl­äge.“

Marcel Dietsche Ivonne Ksiazek-Schaffer

vom Kosmetikst­udio Hautsache in Sigmaringe­n muss ihren Betrieb ebenfalls wieder komplett schließen. Doch nicht nur das: Die Kosmetiker­in hat in Werbung, in neue Produkte investiert. „Diese Entscheidu­ng raubt mir die Zuversicht“, sagt Ksiazek-Schaffer. Sie könne sich nicht vorstellen, dass die Inzidenz schnell wieder sinke, zumal sie fünf Tage nacheinand­er unter 100 liegen muss. Statt dem Hin und Her ist sie der Meinung, dass die Gesellscha­ft mit dem Virus leben müsse.

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