Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Die Schüler fühlen sich nicht gehört“
Experten der Kinder- und Jugendpsychiatrie sprechen über Folgen der Corona-Pandemie
- Geschlossene Schulen und Kindergärten, Einschränkungen bei privaten Kontakten, gestresste Eltern: Kinder und Jugendliche haben unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie besonders zu leiden. Drei Experten des Fachkrankenhauses für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Mariaberg sprechen mit SZ-Redakteur Sebastian Korinth über die Folgen, die Rolle von Schnelltests und die Frage, was Politiker hätten besser machen können.
Knapp ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie leidet in Deutschland jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten. Wann haben Sie die ersten Folgen der Pandemie in der Fachklinik zu spüren bekommen?
Dr. Martin Menzel: Ziemlich schnell, bereits etwa ein bis zwei Monate nach den Schulschließungen im März vergangenen Jahres. Es wurden mehr ambulante Behandlungen in Anspruch genommen. Vor allem aber für Kinder und Jugendliche, die ohnehin schon in Behandlung waren, ist das Wegbrechen der Strukturen zu einem enormen Problem geworden. Verschärft wird die Situation durch Elternhäuser, die auf die Betreuung zu Hause überhaupt nicht ausgelegt sind. Viele Alleinerziehende zum Beispiel konnten die Notbetreuung nicht in Anspruch nehmen, weil verhaltensauffällige Kinder dort nicht angenommen wurden. Dr. Helen Spieles: Eine Rolle hat auch gespielt, dass Ergo- und Physiotherapie eingestellt werden mussten – bis zu einem halben Jahr lang. Das hat bei einigen Patienten zu einem Entwicklungsstillstand geführt. Ursula Geist-Tuz: Die Jugendämter haben beispielsweise keine AußerHaus-Termine mehr gemacht. Familien standen mit ihren Problemen plötzlich alleine da. Die Einschnitte waren schon ziemlich gravierend.
Wie ist die Situation jetzt?
Menzel: Das Problem setzt sich fort. Manche Gruppenangebote müssen immer noch ruhen. Und Online-Psychotherapie ist zwar möglich, aber auch nicht gerade segensreich. Bei unseren stationären und teilstationären Angeboten werden wir kaum in der Lage sein, die Wartelisten abzuarbeiten.
Was ist es denn, was Kindern und Jugendlichen so zu schaffen macht? Der Mangel an sozialen Kontakten? Die Angst vor der Pandemie? Mehr Streit zu Hause?
Menzel: All das zusammen. Es kommen aber noch weitere Aspekte hinzu. Viele Kinder und Jugendliche zum Beispiel werden in der Schule ohnehin schon sehr gefordert. Jetzt wächst der Druck auf sie noch mehr: Sie müssen Stoff nacharbeiten, während neuer hinzu kommt. Oft lässt sich das kaum bewältigen. Dass die Klassengemeinschaft unter den aktuellen Bedingungen so sehr leidet, macht die Sache noch schwerer.
Geist-Tuz: Von der schulpsychologischen Beratungsstelle bekommen wir die Rückmeldung, dass immer mehr Kinder wegen psychischer Probleme nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Diese Zahl ist sprunghaft angestiegen.
Die Autoren der Copsy-Studie sehen die Schulen in der Pflicht. Sie sollen regelmäßig Kontakt zu den Schülern halten, um ihnen Wertschätzung und Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Sonst bestehe die Gefahr, dass vor allem Kinder aus Risikofamilien ihre Motivation und Lernfreude verlieren.
Menzel: Den Kontakt von Kindern untereinander halte ich für wichtiger. Kinder brauchen Kinder. Sie können sich hervorragend in Gruppen organisieren, sie brauchen auch das Streiten und die Auseinandersetzung untereinander. Jetzt aber haben sie kaum noch Möglichkeiten, sich altersgerecht zu treffen und auszutauschen. Sport- und Musikvereine mussten den Betrieb einstellen. Freundschaften zu pflegen und neu zu knüpfen – das geht aktuell nur noch im Internet. Wichtige Entwicklungsschritte werden damit erschwert, wenn nicht verhindert.
Nicht jede psychische Auffälligkeit wird zur psychischen Störung. Werden die Auswirkungen der Corona-Pandemie bei Kindern und Jugendlichen trotzdem langfristige Folgen hinterlassen?
Spieles: Die Langzeitfolgen lassen sich zurzeit kaum abschätzen, das müssen wir abwarten. Es gibt durchaus die Befürchtung, dass wir Unterschiede im Sozialverhalten feststellen werden. Wie Kinder die Probleme bewältigen, hängt aber auch entscheidend vom sozialen Netz im Hintergrund ab.
Menzel: Wichtig ist, dass wir auch einen Blick auf Berufsschulen und Studenten werfen. Uns droht zum Beispiel eine hohe Zahl an Studienabbrechern. Sollte es so kommen, werden wir das vielleicht noch in zehn Jahren spüren.
Fast ein Jahr ist es her, dass Kindergärten und Schulen zum ersten Mal geschlossen wurden. Kritische Stimmen gab es früh, trotzdem fühlen sich viele Eltern bis heute allein gelassen. Wird dem Leid von Kindern und Jugendlichen genug Beachtung geschenkt?
Menzel: Die mediale Aufmerksamkeit war und ist hoch. Ein größeres Problem sehe ich darin, dass Eltern nicht gut genug geholfen wurde, tatsächlich Unterstützung zu finden. Spieles: In den Kreisen, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, wird das Problem wahrgenommen. Aber: Die Schüler selbst fühlen sich nicht gehört. Für sie ist das frustrierend, zumal sich die überwältigende Mehrheit zuverlässig an die Regeln hält. Maske tragen, Abstand halten – darüber beschwert sich bei ihnen kaum jemand.
Wie sollte die Politik jetzt reagieren, um Schlimmeres zu verhindern?
Menzel: Der entscheidende Faktor ist, Lehrer und Erzieher zu impfen, um Kindergärten und Schulen möglichst schnell wieder möglichst weit öffnen zu können. Bis zum Sommer sollen ja auch Berufsschüler und Studenten an der Reihe sein. Dass es trotzdem zu Infektionen in der Schule kommen kann, müssen wir akzeptieren. Was mich wundert ist, wie wenig über das Impfen von Kindern und Jugendlichen gesprochen wird. Dabei sind diesbezüglich noch so viele Fragen offen. Zum Beispiel, wann ein Impfstoff für sie zugelassen wird. Oder ob geimpfte Menschen nach dem Kontakt mit einem Infizierten trotzdem in Quarantäne müssen.
Können Schnelltests zu mehr Sicherheit beitragen, zumindest vorübergehend?
Menzel: Ich bin da skeptisch. Es wird kaum noch über falsch negative und falsch positive Tests gesprochen. Außerdem gibt es viele Menschen, die Sorge vor der unangenehmen Prozedur haben. Menschen mit Behinderung können oft gar nicht verstehen, warum sie das über sich ergehen lassen müssen.
Spieles: Jugendlichen können Sie immerhin noch erklären, was es damit auf sich hat. Aber gerade bei kleinen Kindern geht das nicht. Im Extremfall müssen sie für das Testen von mehreren Leuten festgehalten werden.
Was hätte die Politik im vergangenen Jahr besser machen können?
Menzel: Die Frage zu diskutieren, ist natürlich etwas müßig. Hinterher weiß man es bekanntlich immer besser. Trotzdem: Mit dem Homeschooling hätte man anders umgehen können. Ich bin auch der Meinung, dass zu viel zu undifferenziert verboten wurde. Man hätte die Kontakte unter Jugendlichen nicht so massiv einschränken dürfen. Und warum gibt es eigentlich nicht längst Luftfilter in allen Klassenzimmern? Spieles: Ich bin auch der Meinung, dass die Kontakte zu drastisch beschränkt wurden – etwa bei Freizeitaktivitäten wie Sport oder Jugendtreffs, bei denen man das Zusammentreffen steuern und kontrollieren kann. Mit etwas mehr Offenheit in diesen Bereichen hätte vielleicht auch die eine oder andere illegale Party verhindert werden können.