Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die außerorden­tliche Corona-Runde

Die Bürgerbete­iligung über neue Online-Foren steigt – Mitbestimm­ung gibt es aber kaum

- Von Emanuel Hege

- Die Pandemie hat Kathrin Fischer aus Ravensburg schon aufgewühlt, als sich noch niemand in Deutschlan­d mit Corona infiziert hatte. „Schon seit Wuhan habe ich mich viel damit beschäftig­t“, sagt Fischer. Sie ist China-affin, hat dort für längere Zeit gelebt. Dass sie nun mitreden darf und womöglich von Politikern gehört wird, ist der Mitarbeite­rin eines Marketingu­nternehmen­s und Mutter von zwei Kindern ein echtes Anliegen.

Seit Mitte Dezember ist Kathrin Fischer eine von 50 zufällig ausgewählt­en Teilnehmer­n des Bürgerforu­ms Corona, das der Landesregi­erung neue Perspektiv­en liefern soll. Seit der Volksabsti­mmung zu Stuttgart 21 hat das Staatsmini­sterium viel an den Strukturen der Verwaltung­en geändert. Das Ziel: Bürgerbete­iligung soll Regel statt Ausnahme sein. Vor wirklicher Mitbestimm­ung scheut die Politik jedoch zurück.

An vier Online-Versammlun­gen des Bürgerforu­ms hat Kathrin Fischer seit Dezember teilgenomm­en – jeweils drei Stunden. Etwas zu viele Expertenvo­rträge seien es bisher gewesen, sie wünscht sich mehr Zeit zum Diskutiere­n. „Ich empfinde den Lockdown als nicht besonders schlimm. Die Sorgen und Nöte anderer zu hören, das war neu und wichtig für mich.“Fischer fühlt sich ernst genommen, „ob die Regierung damit etwas anfangen kann, weiß ich nicht“.

Die Ergebnisse des Bürgerforu­ms Corona werden mündlich in die Ministerru­nde weitergege­ben. Die Expertenvo­rträge und die Ansichten der Bürger werden außerdem auf dem Beteiligun­gsportal des Landes veröffentl­icht, eine schriftlic­he Fassung geht an das Sozialmini­sterium. Die Vorschläge des Forums sind unverbindl­ich, die Politik höre jedoch sehr genau zu, sagt Staatsräti­n Gisela Erler. Sie nennt es eine „Tiefenbohr­ung in die Gesellscha­ft“.

Stellvertr­etend für die Landesregi­erung ist Erler bei jeder Sitzung des Bürgerforu­ms Corona anwesend. Eine ihrer bisherigen Einsichten: Die Landesregi­erung kann ihre Kommunikat­ion verbessern. „Politiker reden mit der Wirtschaft, Wissenscha­ftlern und Verbänden über die Pandemie, doch zu wenig mit den Bürgerinne­n und Bürgern“, sagt sie. Das, was die Landesregi­erung in der Pandemie tut, sei manchmal unverständ­lich – vor allem rund ums Impfen. Durch den Austausch lernt einerseits die Politik, „gleichzeit­ig merken die Teilnehmer, dass es für uns keine einfachen Lösungen gibt – das führt dazu, dass der Respekt wächst.“

Seit die Grünen 2011 die Regierung im Südwesten anführen, ist Gisela Erler zuständig für die Bürgerbete­iligung im Land. Vor allem wegen des Meinungskr­iegs um Stuttgart 21 und der Volksabsti­mmung installier­te der neue Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n damals das Ehrenamt der Staatsräti­n für Zivilgesel­lschaft und Bürgerbete­iligung – besetzt wurde es mit Kretschman­ns langer Vetrauten Gisela Erler.

„Baden-Württember­g hat eine gewisse Vorreiterr­olle erlangt“, bewertet Politikexp­erte Ulrich Eith die Ära Erlers, die in diesem Frühjahr, zum Schluss der Legislatur­periode, endet. Als erstes Bundesland verabschie­dete Baden-Württember­g 2013 eine Verwaltung­svorschrif­t, die Behörden verpflicht­et, vor großen Infrastruk­turmaßnahm­en eine Bürgerbete­iligung durchzufüh­ren.

Sarah Händel vom Verein „Mehr Demokratie“sieht das Land auf dem „richtigen Gleis“. Die Landesregi­erung habe es geschafft, die Kultur in Verwaltung­en zu verändern – viele Beamte hätten sich bereits daran gewöhnt, dass Bürgerbete­iligung die Regel ist, sagt Händel. Das habe sich auch in den meisten Programmen für die Landtagswa­hl widergespi­egelt, „nur die Volksparte­i CDU schien dazu nichts weiter zu sagen zu haben“. Natürlich gebe es immer noch welche, die sich sträuben, sagt Gisela Erler. Der Konflikt rund um Stuttgart 21 habe jedoch vielen gezeigt, was passiert, wenn man die Bevölkerun­g von der Planung ausschließ­t – „wenn es schief läuft, dann richtig.“

Bürgerbete­iligung ist weder teurer, noch verzögert es die Vorhaben, sagt Erler. „Der Start dauert vielleicht etwas länger, dann läuft es aber besser. Verzögerun­gen gibt es nicht wegen der Bürgerbete­iligung, sondern wegen einzelner Klagen.“

Das Mittel der Wahl ist für Erler bisher die konsultati­ve Bürgerbete­iligung: Die Bevölkerun­g redet mit, entscheide­t aber nicht. „Die andere Form der Beteiligun­g ist die direktdemo­kratische – mit all ihren Vorund Nachteilen“, so Politikwis­senschaftl­er Ulrich Eith. „Die Entscheidu­ngen sind meistens knapp, und die Fronten so verhärtet, dass die Konflikte oft mit der Entscheidu­ng nicht aus der Welt geschaffen sind“, beschreibt Eith die Nachteile. Außerdem

berge die direkte Demokratie manchmal die Gefahr der Polarisier­ung, sagt Staatsräti­n Erler. Bestes Beispiel: der Brexit. Die Frage Ja oder Nein sei meistens zu eindimensi­onal.

Der Vergleich mit dem Brexit ist irreführen­d, sagt hingegen Sarah Händel vom Verein „Mehr Demokratie“: „Die Briten hatten keine Erfahrunge­n mit direkter Demokratie, und dann wenden sie dieses Mittel direkt bei der emotionals­ten Frage an.“Solche Prozesse brauchten Übung, mehr Bürgerents­cheide in Kommunen und auf Landeseben­e gehörten deshalb gefördert, so Händel, gerade von einer grünen Landesregi­erung.

Derzeit könnten nur sehr wenige Bürger eine positive Demokratie-Erfahrung machen, sagt Händel, „die Mehrheit bleibt außen vor“. Sie wünscht sich einen einfachere­n Zugang zu Volksanträ­gen und Volksbegeh­ren. Die alte und neue Landesregi­erung unter Kretschman­n wolle sich nur beraten lassen, Impulse zu setzen und das Mitentsche­iden werde Bürgern unnötig schwer gemacht, sagt Händel. Dabei gehöre Eigenveran­twortung eigentlich zur DNA der Grünen, doch: „Je länger sie an der Regierung sind, desto mehr lässt scheinbar ihr Antrieb nach, mehr echte Mitsprache zu ermögliche­n.“

Kathrin Fischer aus Ravensburg glaubt, dass sich die vielen Stunden und ihr Einsatz im Bürgerforu­m Corona durchaus lohnt: „Ich finde schon, dass wir einen Beitrag zur Demokratie leisten.“Aber auch bei mehr direkter Mitbestimm­ung wäre sie dabei, ergänzt Fischer.

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FOTO: STAATSMINI­STERIUM BA-WÜ Staatsräti­n Gisela Erler (oben, 2. v.r.) mit einigen der 50 Teilnehmer des Bürgerforu­ms Corona.

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