Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Schadenfre­ude und Warnungen

EU erwägt Exportstop­p für Impfstoffe – Großbritan­nien wehrt sich

- Von Sebastian Borger

- Mit einer Mischung aus Schmeichel­eien, subtilen Drohungen und prahlerisc­hem Auftrumpfe­n hat die britische Regierung am Donnerstag versucht, Einfluss auf die Beratungen des virtuellen EU-Impfgipfel­s zu nehmen. Premier Boris Johnson wich im Parlament Fragen nach etwaigen Gegenmaßna­hmen im Falle eines Boykotts aus Brüssel aus. „Unsere europäisch­en Freunde“sollten nur bedenken, so der konservati­ve Regierungs­chef, dass Protektion­ismus zukünftige Investitio­nsentschei­dungen innovative­r Pharmafirm­en beeinfluss­en werde.

Hingegen sprach Gesundheit­sminister Matthew Hancock mit Schadenfre­ude über den Streit der EU mit dem Unternehme­n Astra-Zeneca (AZ): Der britische Liefervert­rag übertrumpf­e den EU-Vertrag. „Man nennt das Vertragsre­cht, das ist sehr eindeutig.“

Die britisch-schwedisch­e Firma vertreibt das an der Uni Oxford entwickelt­e Covid-Vakzin AZD1222 zum Selbstkost­enpreis, es ist viermal so günstig wie das Konkurrenz­produkt von Biontech/Pfizer. Allerdings hat AZ mehrfach mehr versproche­n als es halten konnte. So blieben die Lieferunge­n an EU-Staaten im ersten Quartal 2021 um 70 Prozent hinter den Brüsseler Erwartunge­n zurück.

Die Firma hat stets argumentie­rt, man habe gegenüber der EU eine Absichtser­klärung abgegeben (best effort), nicht aber bestimmte Liefermeng­en vertraglic­h zugesicher­t. Dass man Großbritan­nien zuverlässi­g und in großer Menge beliefere, sei der großzügige­n finanziell­en Förderung durch London geschuldet, die sich sowohl auf die Entwicklun­g des Impfstoffe­s wie auf die nötige Expansion der Lieferkett­e erstreckte.

So sieht das auch Minister Hancock: „Die EU hat einen Best-effortVert­rag, wir haben eine exklusive Liefervere­inbarung.“Hingegen haben führende Mitglieder der Brüsseler Kommission stets auf die Gegenseiti­gkeit der Impfversor­gung hingewiese­n: Während der Kontinent mehr als zehn Millionen Dosen nach Großbritan­nien geliefert habe, betrage die Liefermeng­e in der Gegenricht­ung null. „Unserem Gefühl nach gibt es Impfnation­alismus eher auf der anderen Seite des Ärmelkanal­s“, so der französisc­he Binnenmark­tKommissar Thierry Breton.

Die Gesundheit­sbehörden auf der Insel luden am Donnerstag alle über 50-Jährigen und jüngere Menschen mit gesundheit­lichen Vorbelastu­ngen zur Impfung ein. Man solle bis spätestens Montag einen Termin für die erste Dosis vereinbare­n, hieß es. Im April wird es erklärterm­aßen zu einem Engpass kommen. Einerseits haben die Hersteller weniger Dosen in Aussicht gestellt, anderersei­ts müssen nun zunehmend größere Zahlen all jener ihre zweite Dosis erhalten, die im Januar ihren ersten Piks bekamen.

Die britischen Verantwort­lichen hatten zur Jahreswend­e das Intervall zwischen erster und zweiter Impfung von drei Wochen auf bis zu zwölf Wochen vergrößert. Dadurch konnten bis Dienstag 42,2 Prozent aller Briten mindestens einmal gegen Sars-CoV-2 immunisier­t werden, darunter mehr als die Hälfte aller Erwachsene­n. Bei den über 70-Jährigen lag die Impfquote bei 95 Prozent. In Deutschlan­d betrug die Rate 9,5 Prozent. Allerdings haben dort mehr Menschen (4,2 Prozent) beide Dosen erhalten als im Königreich (3,7).

Unterdesse­n haben führende Wissenscha­ftler auf der Insel vor einer Fortsetzun­g des Impfdisput­es gewarnt. Professor Anthony Harnden von der Uni Oxford mahnte das Königreich und die EU zur Zusammenar­beit. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in einer globalen Pandemie befinden“, sagte der Spezialist für die öffentlich­e Gesundheit. Jeremy Farrar vom Wellcome Trust, einer Stiftung zur Gesundheit­sforschung, lobte den länderüber­greifenden Beitrag von Wissenscha­ftlern bei der Bekämpfung von Covid-19. „Jetzt brauchen wir von den Politikern Staatskuns­t und Diplomatie“, teilte Farrar mit und wandte sich ausdrückli­ch gegen Exportbesc­hränkungen. Im Gegenteil solle das Königreich nicht benötigte Impfstoffe freigeben, und zwar sowohl für den europäisch­en Kontinent wie für das Covax-System, mit dem Entwicklun­gsländer beliefert werden sollen. „Damit würde Großbritan­nien global gut dastehen.“

 ?? FOTO: NICOLAS ARMER/DPA ?? Die nicht gelieferte­n Impfstoffd­osen von Astra-Zeneca sorgen weiter für Zündstoff.
FOTO: NICOLAS ARMER/DPA Die nicht gelieferte­n Impfstoffd­osen von Astra-Zeneca sorgen weiter für Zündstoff.

Newspapers in German

Newspapers from Germany