Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Schluss mit dem IT-Zirkus
Amazon macht es vor: Durch intelligent verknüpfte Schnittstellen zu Produzenten, Händlern, Paketdiensten, Banken und dem Kunden hat der Online-Dienstleister einen Mehrwert geschaffen, der in der Pandemie seine Vorteile ausspielt. Doch gerade an intelligenten Schnittstellen mangelt es immer noch im Software-Folklorezirkus der deutschen Gesundheitsämter, wenn sie Kontakte nachverfolgen. Da darf jeder Programmierer in jedem Landratsamt eigene Programme stricken. Und das in Deutschland entwickelte und in Nigeria erprobte Programm „Sormas“, das flotten Datenaustausch ermöglicht, ist zwar installiert, wird aber nicht genutzt.
In der dritten Welle und angesichts neuer Mutanten darf die Auskunft nicht mehr lauten: „Sorry, Ihr Kontakt passt leider nicht in unser System.“Denn wenn jetzt nicht schnell die bundeseinheitliche Software eingeführt wird, ist die konsequente Kontaktnachverfolgung nicht zu schaffen. Der Jo-Jo-Lockdown dauert länger. Es gibt mehr Infizierte und Tote. Diese Kette gilt es flächendeckend zu durchbrechen – mit einem Klick auf „Jetzt installieren“.
Doch die desaströse SoftwareFolklore reiht sich ein in eine Defizitkette, die bis vor einem Jahr niemanden wirklich interessierte:
Dass kaputte Züge nicht fahren. Dass alte Panzer nicht schießen. Dass unmotivierte Lehrer sich der Digitalisierung verschließen. Dass Flughäfen und Bahnhöfe nicht fertig werden. Dass Funklöcher größer sind als „connected areas“. Dass vereinbarte Ziele mit internationalen Partnern einfach ignoriert werden.
Jetzt werden all diese Defizite sichtbar: Und sie fallen den Deutschen vor die Füße. Die Generation der Babyboomer glaubt immer noch, Bräsigkeit sei ein Regierungsprogramm. Nach Corona werden weitere Pandemien zu meistern sein. Auch die Klimakrise legt keine Pause ein. Migrationsströme kündigen sich an. Und die Landratsämter basteln weiter eigene Software-Lösungen? Bitte nicht! Es ist höchste Zeit, dass die Politiker die Digitalisierung ernst nehmen und Computer nicht als Fortentwicklung des Aktenordners begreifen, sondern tatsächlich als Einstieg in eine neue Zeit.