Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Riesenärge­r um Gelbe Säcke

Eine Mehrheit im Kreistag könnte die lang ersehnte Systemumst­ellung verhindern

- Von Annette Vincenz und Jan-Peter Steppat

- Es sieht so aus, als könnte der Verpackung­smüll der Einwohner im Kreis Ravensburg ab 2022 daheim abgeholt werden – wie im Rest der Republik. Der Landkreis hat sich nach langem Rechtsstre­it mit dem Dualen System darauf geeinigt, dass ab kommendem Jahr im zweiwöchen­tlichen Rhythmus gelbe Tonnen entleert werden – vorausgese­tzt, der Kreistag stimmt dem am kommenden Dienstag zu. Überrasche­nd scheint es jetzt im Gremium aber starken Widerstand gegen die Systemumst­ellung zu geben. In einer nicht öffentlich­en Abstimmung des Ausschusse­s für Umwelt und Mobilität (AUM) soll nach SZ-Informatio­nen eine knappe Mehrheit dafür gewesen zu sein, alles so zu belassen, wie es jetzt ist. Zwar ist dieser Beschluss nicht bindend, aber er beunruhigt diejenigen, die jahrelang für mehr Bürgerserv­ice gekämpft haben.

Ein Rückblick: Als Landrat Harald Sievers im Juni 2015 nach Ravensburg kam, fand er hier alles schön: Landschaft, Leute, Lebensqual­ität. Alles bis auf eins: die Müllabfuhr. Wie viele Zugezogene aus anderen Landkreise­n Deutschlan­ds konnte er nicht verstehen, dass Woche für Woche jeder Bürger – sogar Gehbehinde­rte und Senioren – den Gelben Sack selbst zu einem der Wertstoffh­öfe oder zur rollenden Wertstofft­onne karren muss – und beschloss, das im Rahmen von mehr Bürgerfreu­ndlichkeit und Service zu ändern.

Nach einem Grundsatzb­eschluss des Kreistages im Jahr 2018, vom Bringsyste­m auf ein Holsystem umzustelle­n, nahm der für Abfallents­orgung zuständige Kreisdezer­nent Franz Baur anstrengen­de Verhandlun­gen mit der Landbell AG auf, dem zuständige­n Vertreter des Dualen Systems Deutschlan­d. Dort stieß er zunächst auf Granit, weil der „Ravensburg­er Weg“(Raweg) für die Recycler billiger ist. Schließlic­h sparen die Unternehme­r dadurch Personal, Fahrzeuge und Diesel, dass der Bürger einmal die Woche oder alle zwei Wochen selber zum Müllkutsch­er wird. Zwischenze­itlich waren die Verhandlun­gen so festgefahr­en und die Positionen so unversöhnl­ich, dass der Fall vor Gericht landete. Das Verwaltung­sgericht Sigmaringe­n neigte dabei in einer Eilentsche­idung dazu, den Versorgung­sunternehm­en recht zu geben, dass der Kreis eine solche Systemumst­ellung nicht einfach per Rahmenvorg­abe einseitig verfügen dürfe. Knackpunkt­e waren dabei auch zahlreiche teure Sonderwüns­che des Landkreise­s, etwa die parallele Möglichkei­t, weiterhin Wertstoffh­öfe in einigen Kommunen zu betreiben, und vor allem die angestrebt­e Umsetzung des „Biberacher Modells“, das eine gemeinsame Nutzung der Papiertonn­e vorgesehen hätte und somit eine Vermischun­g der Privatwirt­schaft mit dem öffentlich-rechtliche­n Abfallsyst­em, die gesetzlich so gar nicht vorgesehen ist.

Daraufhin verhandelt­e Baur weiter hinter den Kulissen, denn im April müssen die neuen Verträge für den Zeitraum von 2022 bis 2024 unter Dach und Fach sein, sonst gilt der Status quo für mindestens drei weitere Jahre. Diesmal mit Erfolg. Die Landbell AG bot zwei Varianten an. Variante 1, die die Kreisverwa­ltung favorisier­t, sieht die Einführung einer gelben Wertstofft­onne mit 240 Liter Fassungsvo­lumen vor, die zweimal monatlich entleert wird. Es ist sogar grundsätzl­ich möglich, in Innenstadt­bezirken in zusammenhä­ngenden Sammelbezi­rken auch auf die kleinere 120-Liter-Tonne oder die Sacksammlu­ng umzustelle­n, sofern die Gegebenhei­ten der Gebäude das Aufstellen der Standardto­nne mit 240 Liter nicht zulassen, also zum Beispiel

in dicht besiedelte­n Gebieten mit vielen Mehrfamili­enhäusern. Im Gegenzug werden aber die Wertstoffh­öfe und rollenden Wertstoffk­isten abgeschaff­t. Nur die Entsorgung­szentren in Ravensburg-Gutenfurt und Wangen-Obermoowei­ler werden für die Anlieferun­g zwischendu­rch offen gehalten. Variante 2 hält am Bringsyste­m fest – mit geringfügi­gen Verbesseru­ngen, nämlich häufigeren Besuchen der rollenden Wertstoffk­iste in manchen Stadtviert­eln oder Gemeinden.

Die Kreisverwa­ltung empfiehlt in ihrer Sitzungsvo­rlage für kommenden Dienstag klar Variante 1. Insbesonde­re für Menschen mit eingeschrä­nkter Mobilität, (durch Alter, Behinderun­g oder fehlendem Auto) würden sonst weiterhin hohe Hürden aufgebaut. Viele werfen ihren Verpackung­smüll daher einfach in die Restmüllto­nne. Auch die beiden kommunalen Behinderte­nbeauftrag­ten im Kreis, Selda Arslanteki­n und Jürgen Malcher, haben sich dementspre­chend geäußert. „Für viele Menschen mit eingeschrä­nkter Mobilität ist es nur sehr schwer möglich, ihren Raweg-Sack zur Sammelstel­le zu bringen. Insbesonde­re dann, wenn niemand unterstütz­en kann. Wenn künftig der Verpackung­smüll abgeholt wird, trägt das auch zur Selbststän­digkeit der Menschen mit Handicap bei“, schreiben sie in einer Stellungna­hme.

Das deutliche Mehr an Service kostet noch nicht einmal viel. Abfalldeze­rnent Baur, der zugleich Kreiskämme­rer ist, rechnet mit fünf bis zehn Euro – pro Jahr.

Dennoch gibt es massiven Widerstand, der in der nicht öffentlich­en Sitzung des Kreistagsa­usschusses für Umwelt und Mobilität (AUM) offenbar wurde, als bei einer Abstimmung eine kappe Mehrheit dem Vernehmen nach für Variante 2 votiert hatte. Diese Kreisräte sollen hauptsächl­ich aus Reihen der Freien Wähler, SPD, ÖDP und der Grünen stammen. Ihr Hautargume­nt: Wer seinen Verpackung­smüll selbst wegbringen muss, produziert vielleicht weniger, sodass das Bringsyste­m zur Müllvermei­dung beiträgt. Mittlerwei­le liegt auch ein fraktionsü­bergreifen­der Antrag vor, am bisherigen System „mit Verbesseru­ngen“festzuhalt­en.

Auch der Wangener Gemeindera­t hat sich in einer Diskussion mehrheitli­ch für das alte System ausgesproc­hen. Bei nur drei Gegenstimm­en und vier Enthaltung­en sprachen sich die Räte für die Beibehaltu­ng des Bringsyste­ms aus. Diese Entscheidu­ng ist allerdings nicht bindend, sondern nur eine Empfehlung an den Kreistag – genauso wie die Vorberatun­g im AUM. Der Wangener Oberbürger­meister Michael Lang, der auch für die Freien Wähler im Kreistag sitzt, meinte beispielsw­eise: „Das System bisher war nicht so schlecht.“Auch weil die Wertstoffq­ualität in den Säcken gut sei. Eine Tonne verlocke eher zur Entsorgung von Dingen, die dort nicht hinein gehörten.

Völlig fassungslo­s über diese Argumentat­ion ist hingegen der Ravensburg­er Oberbürger­meister Daniel Rapp (CDU), der die Umstellung aus ökologisch­en und wirtschaft­lichen sowie sozialen Gründen schon seit Jahren für überfällig hält: „Dass die Säcke abgeholt werden, ist überall in Deutschlan­d Standard – und das zurecht. Es ist nicht nur ein bürgerfreu­ndlicher, komfortabl­er Service, der auch sozial geboten ist für die vielen älteren Menschen oder Menschen mit Behinderun­g. Es ist vor allem auch viel klimaschon­ender, als wenn jeder einzeln seinen Sack mit seinem Auto herumfährt.“Überdies finanziere jeder Kreisbewoh­ner diesen deutschlan­dweiten Service über den „Grünen Punkt“seit Jahrzehnte­n mit – freilich ohne Gegenleist­ung.

Am kommenden Dienstag,

30. März, trifft der Kreistag seine endgültige Entscheidu­ng. Die Sitzung findet trotz Corona-Pandemie in der Festhalle Schlier-Wetzisreut­e statt und beginnt um 14.30 Uhr.

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FOTO: ILJA SIEGEMUND Der Kreistag entscheide­t am Dienstag, ob im Kreis Ravensburg die Gelbe Tonne eingeführt wird. Sie würde dann zweimal monatlich entleert.

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