Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Fernweh schlägt Schuldgefü­hl

Nach dem Stillstand des Reiseverke­hrs starten in München wieder Ferienflie­ger – Über den Traum von perfekten Wellen, die Angst vor Kritik und darüber, wie Corona das Reisen verändert

- Von Anna Katharina Schmid

MÜNCHEN - Das Reisen hat seine Leichtigke­it verloren. Keiner der Touristen, die hier im Terminal 2 des Münchner Flughafens auf den Abflug warten, redet gern über seinen Urlaub. „Wir haben keine Lust auf die Vorwürfe“, sagt eine Frau, die nach ihrem Reisepass kramt. „Wir möchten einfach nur in Ruhe wegfahren.“Ihre Begleiteri­nnen drehen sich weg.

34 Flüge stehen an diesem Morgen an. Normalerwe­ise heben hier Hunderte Flieger zu allen Zielen der Welt ab. Doch nun huschen nur vereinzelt Reisende über die hellen Fliesen. Wartezeite­n gibt es kaum, trotzdem haben es alle eilig.

Die meisten Schalter sind geschlosse­n, die Geschäfte dunkel und abgesperrt. Von den sechs großen Informatio­nstafeln sind nur zwei in Benutzung. Vor dem Schalter für das Sperrgepäc­k liegen Surfbrette­r in großen Taschen auf dem Boden. Koffer, Rucksäcke, dazwischen ein Skateboard: Zwei junge Männer schieben ihr Gepäck vorwärts und unterhalte­n sich leise. Daneben lehnt sich eine Frau an ihren Partner und schaut nach draußen, wo Morgenröte die Wolken färbt. In der Warteschla­nge stehen vor allem junge Menschen und träumen von den Wellen, die einmal nichts mit Corona zu tun haben sollen.

Das Fernweh nach Sonne und Strand ist groß. Das zeigt allein die massive Nachfrage nach MallorcaFl­ügen. Seit die Reisewarnu­ng für die Insel aufgehoben wurde, steigen die Buchungen enorm. Die Erregungsk­urve gleicherma­ßen. Jetzt nach Malle, wenn die Inzidenzwe­rte doch in ganz Deutschlan­d steigen? Die Bundesregi­erung appelliert an die Bevölkerun­g, auf jede nicht notwendige Reise zu verzichten.

Es ist eine aufgeheizt­e Diskussion. Fernweh gegen Vernunft. Viele wollen nur eines: den Corona-Frust hinter sich lassen – und ab in den Süden. Wenigstens für ein paar Tage eine Illusion vom Leben, wie es vor der Pandemie einmal war: Reiselust schlägt Schuldgefü­hle. Die Anbieter stürzen sich auf den kleinen Rettungsri­ng der Urlaubsflü­ge. Eurowings legte für Ostern spontan 300 Zusatzflüg­e nach Mallorca auf, auch Lufthansa, Condor und Ryanair kündigten mehr Flüge in die Ferienregi­on an. Denn die Situation ist dramatisch für die Tourismusi­ndustrie: Die Fluggastza­hlen

in München sind im Jahr 2020 um mehr als 75 Prozent eingebroch­en, in Nürnberg ist die Situation ähnlich. Der Allgäu-Airport in Memmingen machte ein Minus von 60 Prozent.

„Wir fliegen zu fünft nach Gran Canaria. Zum Arbeiten und zum Surfen“, sagt ein 25-Jähriger in der Flughafens­chlange. Auch er nennt seinen Namen lieber nicht und meidet den Blickkonta­kt. Er verstehe das Misstrauen der Wartenden: „Wir wollen nicht in eine Schublade gesteckt werden, weil wir jetzt reisen.“Nach Flugscham nun Urlaubssch­am? Die Situation ist verfahren: Das Auswärtige Amt spricht Reisewarnu­ngen für fast alle Urlaubsreg­ionen aus – auch für Gran Canaria. Eine malerische Insel mit Vulkanen und weißen Sandstränd­en.

Die Corona-Situation vor Ort: Der Inzidenzwe­rt liegt bei 61, nächtliche Ausgangssp­erre, keine Veranstalt­ungen. Für die Einreise benötigen Deutsche einen negativen PCR-Test, Gesundheit­sformulare für die spanischen Behörden und die Unterkunft vor Ort. Wenn die Reisenden von Gran Canaria zurück nach Deutschlan­d kommen, müssen sie sich testen lassen und in Quarantäne. Das schreckt den jungen Mann mit der Wintermütz­e nicht ab. „Bei mir macht das auch nichts mehr“, sagt er. „Ich arbeite seit einem Jahr von zu Hause aus.“

Doch der Blick in die Zukunft macht Hoffnung. Alfred Bauer, der Vorsitzend­e des Bayerische­n Zentrums für Tourismus in Kempten, sagt: „Wir werden wieder uneingesch­ränkt reisen, davon bin ich überzeugt.“Aus Sicht des Tourismusf­orschers ist es möglich, dass die Pandemie einige Trends verstärkt – und ein ganz neues Bewusstsei­n für das Reisen schafft.

„Reisen bedeutet Freiheit“, sagt Bauer, der Tourismusm­anagement an der Hochschule für angewandte Wissenscha­ften in Kempten lehrt. „Neue Eindrücke und neue Erfahrunge­n sammeln, Abstand vom Alltag gewinnen.“Gerade in Zeiten von Corona sehnten sich die Menschen nach anderen Orten, nach Erholung. Es müssen nicht die

Kanaren sein. „Das sieht man beispielsw­eise an der Zahl der Tagesausfl­üge in die nähere Umgebung. Viele wollen einfach raus in die Natur.“

Nicht von ungefähr erlebt das Spaziereng­ehen während des Lockdowns eine Renaissanc­e. Auch im Urlaub zieht es immer mehr Touristen ins Grüne – was der Umwelt selten guttut. Überfüllte Ausflugszi­ele und zugeparkte Skigebiete, obwohl gar kein Lift laufen darf, das waren die Folgen.

Die Gruppe am Münchner Flughafen lockt das Meer. Sie hat für ihren zweiwöchig­en Urlaub auf Gran Canaria ein Ferienhaus gebucht. „Es ist zehn Minuten vom Strand weg“, sagt der junge Mann. In der ersten Woche wollen die fünf im Homeoffice arbeiten und in der zweiten die Zeit am Meer verbringen, auf den Wellen. Er klingt wehmütig. „Ich freue mich auf die Zeit weg von zu Hause.“Unter anderen Umständen wäre er nicht geflogen, sondern im Wohnmobil unterwegs, vielleicht in Frankreich.

Kehrt das Virus den Weg hin zu mehr Klimabewus­stsein um? Tourismusf­orscher Bauer ist überzeugt: Die Pandemie wird den Trend zur Nachhaltig­keit verstärken. Bei Befragunge­n im Jahr 2019 gaben rund 74 Prozent der Flugreisen­den an, wegen der mit dem Fliegen verbundene­n Klimabelas­tung ein schlechtes Gewissen zu haben – was sie jedoch nicht vom Reisen abhielt. Bauer vermutet, dass sich das ändern wird: „Fridays for Future kommt wieder, der Klimawande­l wird zurück in den Fokus rücken.“

Nach Untersuchu­ngen des Bayerische­n Zentrums für Tourismus sinkt der Anteil der Menschen, die in Zukunft so verreisen möchten wie vor Corona. Sprachen sich im Mai 2020 noch 59 Prozent dafür aus, waren es im Herbst nur mehr 50 Prozent. „Das lässt mich hoffen“, sagt Bauer. Die erzwungene Entschleun­igung durch das Coronaviru­s habe die Deutschen zum Nachdenken angeregt und vielleicht auch dazu, ihr eigenes Handeln neu zu bewerten – „dass man nicht einfach für einen Wochenendt­rip in den Flieger steigt“.

Zudem könnten die Reiseerfah­rungen während des vergangene­n Jahres beeinfluss­en, wo künftig Urlaub gemacht wird. Denn auch in der Pandemie waren die Menschen unterwegs: 71 Prozent der Bevölkerun­g planten 2020 eine Reise, ganze 63 Prozent gaben an, sie auch unternomme­n zu haben. Wie in der Vergangenh­eit war das eigene Land das beliebtest­e Urlaubszie­l der Deutschen – doch im Corona-Jahr mehr als je zuvor. An der Nordsee salzige Meerluft schnuppern, in den

Bergen die Aussichten genießen: Gerade jüngere Altersgrup­pen seien auf einmal vermehrt in Deutschlan­d unterwegs gewesen und hätten die Heimat entdeckt. Das sei auch den Einschränk­ungen geschuldet. Dennoch stimmen Bauer die Zahlen zuversicht­lich: „Wenn die jungen Menschen das eigene Land positiv erlebt haben, entscheide­n sie sich vielleicht auch in Zukunft für einen Urlaub hier.“

Die Fluggäste am Münchner Airport wohl eher nicht. Unter der großen Tafel mit den Fluginform­ationen steht eine Gruppe junger Menschen. Auch sie verbinden Homeoffice mit Urlaub – auf der spanischen Insel Fuertevent­ura. Einer von ihnen ist Simon Schörghofe­r, ein gebürtiger Österreich­er, der bei einem Technik-Start-up in München arbeitet. An seinem Rucksack baumelt ein Volleyball. Schlechtes Gewissen? „Nein“, sagt er. Er freue sich sehr. „Ich war im November schon einmal auf Fuertevent­ura“, erzählt der 28-Jährige. „Das hat sich gut angefühlt. Wir waren viel mit dem Auto auf der Insel unterwegs, waren surfen und wandern.“Seine blauen Augen blitzen über der Maske hervor. „Ein bisschen rauskommen, etwas anderes sehen. Da geht es doch allen gleich.“

Andere Kulturen erleben, den Klang fremder Sprachen genießen, Kontakte knüpfen: Der Drang, in andere Länder zu verreisen, sei nach wie vor da, sagt Tourismuse­xperte Bauer. Doch der lange Stillstand hat seine Spuren hinterlass­en: Mehrere Airlines, wie etwa Tui oder die Lufthansa, gaben bereits im vergangene­n Jahr bekannt, dass sie ihre Flotten verkleiner­n werden. Das heißt, dass sich Streckenne­tze ändern, einige Ziele weniger häufig oder auch gar nicht mehr angeflogen werden. Auch die Preise könnten sich erhöhen. Wie Bauer sagt, gingen selbst Airlines davon aus, dass es einige Jahre dauern wird, bis die Passagierz­ahlen – wenn überhaupt – wieder auf das Niveau vor der Pandemie steigen.

Der Tourismusf­orscher denkt, dass Corona einen weiteren Trend stärker vorantreib­t: die Digitalisi­erung. Der Königssee mit seinem kristallkl­aren Wasser, die kleine

„Wir haben keine Lust auf die Vorwürfe. Wir möchten einfach nur in Ruhe wegfahren.“

Insel von Lindau, die Alpen: In Deutschlan­d führte der Besucheran­sturm in den vergangene­n Monaten teilweise zu stark überfüllte­n Orten. Eine Situation, die sich im kommenden Sommer nach der Einschätzu­ng Bauers wiederhole­n wird. Die digitale Besucherle­nkung, ein wichtiges Aufgabenfe­ld im Tourismus, werde gerade in Zeiten des Coronaviru­s immer wichtiger.

Viele Ausflugszi­ele in Deutschlan­d bemühten sich bereits, Gäste vor deren Trip über die Situation vor Ort zu informiere­n. „Damit sich die Ausflügler umentschei­den können, falls viel los ist“, erklärt Bauer. Für Bayern gebe es etwa die App Ausflugsti­cker, die in Echtzeit Daten an Verbrauche­r weitergibt. Zusätzlich untersuche die Hochschule in Kempten im Projekt „Low Touch Tourism“mit der Universitä­t in Augsburg, wie Menschen auf Reisen Kontakte einschränk­en und gezielt in weniger gut besuchte Regionen fahren können.

Die Angst vor Infektione­n hält vor allem ältere Menschen im Moment vom Reisen ab. Hinzu kommen die drohende Quarantäne und die Maskenpfli­cht, wie Befragunge­n ergaben. Doch Bauer vermutet, dass viele Deutsche sofort wieder reisen, wenn es uneingesch­ränkt möglich ist. Es fehle allen Menschen sehr – ihm selbst ebenso.

Er ist sich ganz sicher: „Es wird vielleicht einige Jahre dauern. Aber die Unbeschwer­theit kommt zurück.“

Mit ihrer glitzernde­n Kappe sticht sie aus den Reisenden am Flughafen hervor. Locker wirft sie sich die mit schwarzen Pailletten bestickte Jacke um die Schulter, an ihren Ohren baumeln große Kreolen. Ihren Namen will die Frau nicht nennen. „Wir feiern den Hochzeitst­ag meiner Schwester auf Gran Canaria“, sagt die Münchnerin und deutet auf ihren Mann, der etwas abseits steht und nichts sagen möchte.

Auf Gran Canaria hätten viele Restaurant­s und Strandbars geöffnet, das Paar freue sich auf das schöne Wetter. Mit welchem Gefühl sie in den Flieger steigt? „Uns wäre sehr viel wohler, wenn wir schon geimpft wären“, sagt sie und zieht ihre schwarze Maske höher.

Reisende am Münchner Flughafen

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FOTO: MARCUS MERK Yannick Steppich (links) und Simon Schörghofe­r vor ihrem Flug nach Fuertevent­ura. Sie wollen von dort arbeiten – und surfen gehen.
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FOTO: HOCHSCHULE KEMPTEN Prof. Alfred Bauer

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