Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Trauer und Wut in der autonomen Zone

Nach der Tötung von George Floyd durch einen Ex-Polizisten hat sich in Minneapoli­s ein Begegnungs­ort der besonderen Art gebildet

- Von Frank Herrmann

- Unter strengen Sicherheit­svorkehrun­gen beginnt am Montag der Prozess gegen Derek Chauvin. Bereits seit drei Wochen steht der Ex-Polizist, der sein Knie acht Minuten und 46 Sekunden lang in den Nacken George Floyds drückte, in Minneapoli­s vor Gericht. Bisher war es darum gegangen, die Jury auszuwähle­n. Die Anklage lautet auf Mord zweiten und dritten Grades sowie auf Totschlag.

Der Schrein an der Stelle, an der Floyd starb, nimmt die halbe Straße ein. Schräg gegenüber hat der Pfarrer Curtis Farrar Klappstühl­e auf den Parkplatz seiner Kirche gestellt, um zu zelebriere­n, was er einen pandemisch­en Gottesdien­st nennt. Die ganze Welt schaue jetzt auf diesen Platz, predigt der Pastor der Worldwide Outreach for Christ Church. Dann erzählt er von den Erfahrunge­n, die er in den Siebzigern als junger Mann in Minneapoli­s machen musste. Einmal, er näherte sich dem Haus eines Freundes, hätten ihm Polizisten nach kurzem Disput Handschell­en angelegt und ihn gezwungen, sich auf den Boden zu legen. Warum, das wisse er bis heute nicht. „Jedenfalls war ich wütend auf die Polizei, ich war wütend auf Weiße im Allgemeine­n.“Nur führe Wut allein eben zu nichts. Genauso wenig, wie ein Gerichtspr­ozess allein zu einem Umdenken führe. Welchen Prozess er meint, braucht der Geistliche nicht zu erklären.

Curtis Farrar macht kein Hehl aus seiner Skepsis. Zum einen glaubt er nicht recht an einen Schuldspru­ch. Zum anderen glaubt er, dass ein Urteil gegen Chauvin noch längst nicht bedeutet, dass sich Grundlegen­des ändert und Afroamerik­aner nicht mehr schneller als andere ins Visier der Polizei geraten. „Der Wandel muss aus den Herzen kommen. Wenn sich in den Herzen nichts ändert, ist er nicht von Dauer“, sagt der Pfarrer. Eines mache ihm allerdings Hoffnung: Dass nach Floyds Tod nicht nur schwarze Amerikaner auf die Straße gingen, sondern auch sehr, sehr viele weiße. „Und davon hat die ganze Welt Notiz genommen.“

An der Straßenkre­uzung vor dem Cup Foods, inzwischen nur noch George Floyd Square genannt, sind Weiße sogar in der Überzahl. Viele wollen reden, über große Themen diskutiere­n, von Polizeiref­ormen bis hin zur De-facto-Teilung amerikanis­cher Metropolen in „weiße“und „schwarze“Wohngebiet­e, wie sie selbst in linksliber­alen Hochburgen noch immer ziemlich ausgeprägt ist. Die Gegend um die Kreuzung ist vieles in einem, Mahnmal, Begegnungs­ort, Autonomie-Experiment und Problemzon­e.

Kennydra Ogunnaike und Sean Smith sind mit ihren drei Töchtern gekommen, um Floyd zu gedenken. Sie Erzieherin, er Lastwagenf­ahrer, die Familie lebt in St. Louis. Beide bereiten sich innerlich darauf vor, dass

Chauvin am Ende triumphier­t. „Wir rechnen mit dem Schlimmste­n, um dann nicht enttäuscht zu werden.“Das Schlimmste wäre ein Freispruch, der womöglich schwere Unruhen auslösen würde, nicht nur in Minneapoli­s. Und der Film? Das Handyvideo, das alles dokumentie­rt? Hat es nicht eine solche Beweiskraf­t, dass ein Freispruch gar nicht infrage kommt? Smith antwortet mit einer Gegenfrage: „Wie war das bei Rodney King?“1991 prügelten vier weiße Polizisten den 25 Jahre alten Afroamerik­aner mit Schlagstöc­ken fast zu Tode, nachdem sie ihn nach einer wilden Verfolgung­sjagd durch Los Angeles gestoppt hatten. Ein Amateurfil­mer nahm die Szene auf Video auf, eine Jury entschied in allen vier Fällen auf nicht schuldig.

Auch Smith hat allzu oft am eigenen Leib erfahren, was Diskrimini­erung bedeutet. In St. Louis, wo die Nachbarn seines Viertels meist helle Haut haben, wurde er vor Jahren, am Lenkrad seines Autos, von einer Polizeistr­eife angehalten, ohne ersichtlic­hen Grund. Was er hier zu suchen habe, wurde er gefragt. Worauf er erwiderte, dass er hier wohne. Zwei Freunde, die mit ihm im Wagen saßen, wollten den Grund für die Kontrolle wissen. „Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, hieß es, raus, hinlegen, Hände in den Nacken. Und dann lagen wir auch schon auf der Straße, wo vier Männer mit Knüppeln auf uns einschluge­n.“„Das Vergehen? Schwarz zu sein und Auto zu fahren, noch dazu im falschen Bezirk“, kommentier­t Kenydra Ogunnaike das Kapitel. Nicht etwa aufgebrach­t, sondern so, als würde sie nüchtern und zugleich resigniert einen Fakt konstatier­en.

Rodney King, die Schikane in St. Louis und eine Reihe von Grabsteine­n, das alles lässt Sean Smith sagen, dass er sich im Fall Chauvin keinen Illusionen hingibt. Die Grabsteine haben sie eben besucht. 133 Tafeln, aus Styroporpl­atten geschnitte­n, sieben lange Reihen auf einer Wiese, nicht weit vom Cup Foods. Es beginnt mit Emmett Till, dem lebenslust­igen schwarzen Teenager aus Chicago, der im Sommer 1955 zu Verwandten in Mississipp­i fuhr. Weil er beim Anblick einer attraktive­n weißen Frau bewundernd gepfiffen haben soll, wurde er grausam gelyncht. Die Mörder kamen ungestraft davon. Alle anderen, deren Namen auf den Grabsteine­n stehen, fielen Schüssen von Polizisten zum Opfer, obwohl sie unbewaffne­t waren. Jeder Kriminelle werde selbstvers­tändlich verurteilt, wenn es so eindeutige Belege gebe wie das Video, das Chauvin mit dem Knie auf Floyds Hals zeige, sagt Smith noch, bevor er sich verabschie­det. „Bloß für die Polizei gilt das nicht. Was du mit deinen eigenen Augen siehst, ist dann angeblich nie die volle Wahrheit.“

An der Autonomiez­one, am „Freistaat George Floyds“, wie auf Postern zu lesen ist, scheiden sich die Geister. Die Rede ist von einem Quadrat aus Häuserblöc­ken, das an allen Seiten abgesperrt ist. Aktivisten kontrollie­ren die Zufahrten. Nur wenn sie die Eisengitte­r beiseite ziehen, die neben Betonhinde­rnissen die Checkpoint­s markieren, dürfen Autofahrer passieren. Erklärtes Ziel ist es, Polizisten möglichst fernzuhalt­en. Luke Callen, ein junger Weißer, ein Freiwillig­er, der einen der Kontrollpu­nkte bewacht, begründet es mit der Eskalation­sgefahr, die immer dann bestehe, wenn die Polizei eingreife. Der amerikanis­che Polizeibea­mte von heute, spitzt er es zu, verhalte sich, als wäre es sein gottgegebe­nes Recht, andere Menschen zu töten. Für nichts anderes steht die weitgehend­e Immunität, die ihn vor Strafverfo­lgung schütze. Auch deshalb sei das Verfahren gegen Chauvin symbolisch so wichtig, denn es müsse eine Wende einleiten.

Die Sozialarbe­iterin Monica Nilsson, 54, hat keine Freude mehr an dem Autonomie-Experiment, sie hält es für gescheiter­t. In einem Leserbrief an die Zeitung „Minneapoli­s Star-Tribune“hat sie sich ihren Frust von der Seele geschriebe­n. Sie lebe gern in dem Stadtteil, inmitten von Nachbarn mit unterschie­dlichen Hautfarben, Lebenserfa­hrungen, religiösen Überzeugun­gen. Doch sie wisse auch, dass ein Fünftel der Nachbarn vergangene­s Jahr weggezogen sei und dass ein weiteres Fünftel den Umzug plane. Nachts fielen oft Schüsse, und nun könne man sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Polizei auf einen Notruf reagiere. Am Samstag vor drei Wochen, es war der Anlass für Nilssons sorgenvoll­en Brief, wurde ein 30 Jahre alter Freiwillig­er bei einem Streit in der autonomen Zone erschossen. Anwohner fuhren ihn ins Krankenhau­s, wo nur noch sein Tod festgestel­lt werden konnte. Außerdem sammelten sie am Tatort die Patronenhü­lsen ein. Das Minneapoli­s Police Department, erst später verständig­t, blieb außen vor. „Revolution am Tage, Rückschrit­t in der Dunkelheit“, fasst Monica Nilsson zusammen, was sie derzeit in ihrer Wohngegend erlebt.

 ?? FOTO: FRANK HERRMANN ?? Das Memorial zu Ehren George Floyds ist an der Stelle entstanden, an der ein Ex-Polizist ihm mehrere Minuten lang die Luft abgedrückt hatte.
FOTO: FRANK HERRMANN Das Memorial zu Ehren George Floyds ist an der Stelle entstanden, an der ein Ex-Polizist ihm mehrere Minuten lang die Luft abgedrückt hatte.

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