Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Nicht ganze Ethnien stigmatisi­eren“

Migranten-Vertreteri­n Paraschaki über falsche Schlüsse in der Corona-Pandemie

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- Liegen in deutschen Krankenhäu­sern überpropor­tional viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d? Darüber berichtete­n etwa „Focus Online“, der „Tagesspieg­el“aus Berlin, in Österreich zitiert „Die Presse“den Wiener Arzt Burkhard Gustorff mit den Worten „60 Prozent unserer Intensivpa­tienten haben Migrations­hintergrun­d“. Argyri Paraschaki ist Geschäftsf­ührerin des Landesverb­andes der kommunalen Migrantenv­ertretunge­n Baden-Württember­g, sie verfolgt die Berichters­tattung und ist in ständigem Kontakt mit unterschie­dlichen ethnischen Gruppen im Südwesten. Im Interview mit Emanuel Hege erklärt Paraschaki, warum der scheinbare Zusammenha­ng zwischen Migrations­hintergrun­d und Covid-Erkrankung ein Trugschlus­s ist und ärgert sich über Schuldzuwe­isungen.

Ärzte in Deutschlan­d und Österreich berichten, dass viele CovidPatie­nten auf Intensivst­ationen einen Migrations­hintergrun­d haben, diesen Eindruck soll auch Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts, bestätigt haben. Gibt es eine Erklärung für dieses Phänomen?

Nein, eine Erklärung habe ich nicht. Soweit ich das mitbekomme­n habe, gibt es gar keine statistisc­he Grundlage dafür. Stattdesse­n gab es eine Anfrage beim Bundesgesu­ndheitsmin­isterium, ob Nationalit­ät, Religion oder Geburtsort der Infizierte­n erfasst werden. Die Antwort war, dass das nicht passiert – es kann sich also nur um subjektive Einschätzu­ngen handeln, die nicht belegt werden können.

Aber diese subjektive Wahrnehmun­g wird auch von Ärzten bei uns in der Region geteilt – beispielsw­eise in Tuttlingen. Deswegen würde ich trotzdem um einen Erklärungs­versuch bitten?

Ich denke, wir sollten das Thema etwas breiter betrachten – wir wissen ja, dass Migranten stärker von Armut betroffen sind. Außerdem wissen wir, dass sie seltener zu Vorsorgeun­tersuchen gehen. Das liegt unter anderem daran, dass viele Angebote schlicht nicht bekannt sind, aber auch an der Sprachbarr­iere. Dann spielt vermutlich mit hinein, dass Menschen mit Migrations­hintergrun­d häufiger in beengten Wohnverhäl­tnissen leben, und das mit mehreren Familienmi­tgliedern – das begünstigt wohl das Infektions­geschehen. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass sich die allermeist­en Menschen mit Migrations­hintergrun­d an die Regeln halten, es sind die Rahmenbedi­ngungen die dazu führen, dass es mehr Infektione­n gibt.

Ist es also eher eine Frage der Armut als eine des Migrations­hintergrun­des?

Genau, es ist ein soziales Thema. Menschen mit Migrations­hintergrun­d sind eben überdurchs­chnittlich häufig von Armut betroffen und arbeiten häufig in prekären Arbeitsver­hältnissen. Aber ich will auch klarstelle­n: die Menschen immer in einen Rahmen zu stecken, sie würden trotz Pandemie große Hochzeiten feiern, das ist gefährlich. Man generiert dadurch Schuldige.

Wird mit zweierlei Maß gemessen?

Das glaube ich, ja. Überlegen Sie sich mal, Ischgl wäre bei einem großen Event mit migrantisc­hem Hintergrun­d passiert. Das wäre ein ganz anderer Aufhänger gewesen. Man sieht das auch an den Corona-Leugner – ich stelle mir vor, das würden Menschen mit Migrations­hintergrun­d machen, dann hätten wir eine ganz andere Diskussion. Während sich der Großteil an die Regeln hält, gibt es bestimmt einige mit Migrations­hintergrun­d, die sich nicht daran halten. Aber deswegen muss man nicht gleich ganze Ethnien in Schuldhaft nehmen. Dieses Stigmatisi­eren spaltet.

Sie haben vorhin die Sprachbarr­ieren als Mitgrund für die schlechter­e Gesundheit angesproch­en. Haben die Behörden genug getan, um Menschen mit schlechten Deutschken­ntnissen zu informiere­n?

Wir haben im gesamten letzten Jahr erlebt, dass sich Verwaltung­en und Behörden viel Mühe gegeben haben, Informatio­nen in mehreren Sprachen zu übersetzen. Ich glaube, dass das nicht das Problem ist.

Was ist es dann?

Man kann mehr tun, um migrantisc­he Vereine als Multiplika­toren oder Bindeglied­er stärker in den Fokus zu setzen. Meistens fehlt es bei den Vereinen aber an Personal. Wenn man dort entspreche­nd Personen platziert, die als Ansprechpa­rtner fungieren, würde die ganze Informatio­n besser klappen. Migranteno­rganisatio­n sehen sich als Katalysato­ren der Teilhabefö­rderung. Sie sind es, die durch ihre Zugänge zu den Einwandere­rgruppen die Türen zu Politik, Bildung, Gesundheit­sund Pflegewese­n, Beteiligun­g allgemein öffnen können. Die Selbsthilf­e spielt hierbei eine wichtige Rolle. Dies gilt es zu fördern.

Sie sitzen außerdem im Rundfunkra­t des SWR. Was können denn Medien tun, um Menschen mit Migrations­hintergrun­d mit ihren Infos besser zu erreichen?

Spannende Frage: In der Pandemie haben wir gesehen, dass ganz viele Themen nicht besetzt werden. Das liegt daran, dass viele Journalist­en die Probleme der Migranten gar nicht sehen, weil sie ganz anders sozialisie­rt sind. Es wäre mein großer Wunsch, dass Redaktione­n einerseits etwas vielfältig­er besetzt sind. Zum anderen, dass Journalist­en mehr aus anderen Lebenswelt­en berichten. Beispielsw­eise gab es im vergangene­n Jahr wenig Berichters­tattung über die Auswirkung­en auf Leiharbeit­er, prekär Beschäftig­te und Mini-Jobber. Im Gegensatz dazu wurde total viel über das Thema Home-Office berichtet. Aber: Wir sind da auf einem guten Weg.

Greifen viele Menschen mit Migrations­hintergrun­d nicht so oder so auf die Medien in ihrer Landesspra­che zurück?

Wir müssen uns mal Gedanken machen, warum einige dieser Menschen die deutschen Medien nicht konsumiere­n. Klar, es gibt welche, die wollen per se nichts damit zu tun haben. Aber ganz viele konsumiere­n ihre eigenen Medien, weil sie sich da verstanden fühlen. Wenn ich möchte, dass der andere meine Inhalte konsumiert, muss ich ihm etwas bieten, mit dem er sich identifizi­eren kann.

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FOTO: JENS BÜTTNER Nicht der Migrations­hintergund, sondern die Armut macht ungesund und anfälliger für schwere Covid-Verläufe – das sagt Argyri Paraschaki, Geschäftsf­ührerin des Landesverb­andes der kommunalen Migrantenv­ertretunge­n.
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FOTO: PRIVAT Argyri Paraschaki

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