Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Wir brauchen Astrazenec­a dringend“

Weltärzteb­und-Chef Frank Ulrich Montgomery wirbt für den Einsatz des Impfstoffs

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Da die große Mehrheit in diesen Berufsgrup­pen jünger ist als 60, kommt Astrazenec­a für sie nur noch sehr eingeschrä­nkt infrage. Da andere Impfmittel aber besonders knapp sind, zeichnet sich ein Engpass ab. Deshalb bezeichnet­e der Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands, Heinz-Peter Meidinger, die Änderung der Altersgren­zen als „katastroph­alen Rückschlag für die gerade Fahrt aufnehmend­e Impfung von Lehrkräfte­n“. Er forderte „eine schnelle Möglichkei­t für unter 60jährige Lehrkräfte, sich mit Biontech-Pfizer und demnächst mit Johnson&Johnson impfen lassen zu können“. Geschehe das nicht, könnten Schulen möglicherw­eise nicht offengehal­ten werden.

Mit welcher Begründung wurde der teilweise Impfstopp verhängt?

Die Kanzlerin sprach die „sehr seltenen, gleichwohl sehr schlimmen Fälle“an, in denen mit Astrazenec­a Geimpfte Hirnvenent­hrombosen erlitten. „Das sind Erkenntnis­se, die wir nicht ignorieren dürfen“, betonte sie. Laut dem für Impfstoffe zuständige­n Paul-Ehrlich-Institut wurden im Zusammenha­ng mit den Impfungen bis Anfang der Woche 31 Verdachtsf­älle dieser seltenen Art von Blutgerinn­seln in Hirnvenen gezählt. In 19 Fällen wurde zusätzlich ein Mangel an Blutplättc­hen gemeldet. Neun Personen starben. 29 Fälle betrafen Frauen im Alter zwischen 20 und 63 Jahren. Die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur Ema teilte am Mittwoch mit, dass eine Expertengr­uppe eingesetzt wurde, die über europaweit­e Konsequenz­en berate. Voraussich­tlich in anderthalb Wochen werde darüber entschiede­n. Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO will an ihrer Freigabe ohne Altersbesc­hränkung festhalten.

Erst hieß es, der Impfstoff werde für Ältere nicht empfohlen, jetzt sollen ihn ausschließ­lich Personen von 60 aufwärts erhalten. Wie kommt es zu diesem Sinneswand­el?

Die beiden Entscheidu­ngen wurden vor unterschie­dlichen Hintergrün­den getroffen. Als die Ständige Impfkommis­sion (Stiko) vor zwei Monaten Bedenken über die Wirksamkei­t von Astrazenec­a bei über 65-Jährigen äußerte, begründete sie das mit einer unzureiche­nden Datenlage. Aktuell geht es aber nicht um die Wirksamkei­t, sondern um Nebenwirku­ngen. Und davon sind Ältere offenbar kaum betroffen.

Ist es normal, dass bei einem neuen Vakzin oder Medikament die Empfehlung­en geändert werden? Das kommt zwar immer wieder einmal vor. Dass aber innerhalb weniger Wochen zweimal die Behörden eingreifen müssen, ist die Ausnahme.

Kanzlerin Merkel betonte, Offenheit und Transparen­z sei auch im Fall Astrazenec­a besser, als „etwas unter den Teppich zu kehren“.

Die Stiko will Ende April mitteilen, wie es mit Zweitimpfu­ngen für bereits mit Astrazenec­a Geimpfte aussieht. Warum erst so spät?

Die Stiko müsse erst noch einige Studien auswerten, die zur Beantwortu­ng dieser Frage wichtig sind, informiert­e die Kanzlerin. Dazu werde noch einige Zeit gebraucht. Bis zu drei Monate kann man sich beim Mittel von Astrazenec­a Zeit lassen, bevor auf die Erst- die Zweitimpfu­ng folgt. 2,7 Millionen Menschen haben in Deutschlan­d eine Erstimpfun­g mit Astrazenec­a erhalten. Es gab aber erst 767 Zweitimpfu­ngen.

Warum werden Männer nicht weiter mit Astrazenec­a geimpft? Laut dem Stiko-Vorsitzend­en Thomas Mertens ist das Risiko für junge und mittelalte Männer, dass Nebenwirku­ngen eintreten, nicht unbedingt geringer als bei Frauen in diesen Altersgrup­pen. Es seien bisher nur viel mehr Frauen unter 60 mit Astrazenec­a geimpft worden. Deshalb habe es auch mehr Problemfäl­le gegeben.

Warum werden aus Großbritan­nien keine Schwierigk­eiten mit dem Impfmittel gemeldet?

Der SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach ist davon überzeugt, dass es in Großbritan­nien deshalb zu weniger Thrombose-Fällen kommt, weil Astrazenec­a dort vor allem an Ältere verabreich­t werde. In der Altersgrup­pe ab 65 kämen solche Nebenwirku­ngen aber fast nie vor. Der Brite Adam Finn, Professor an der Universitä­t von Bristol, gibt noch einen anderen Grund dafür an, dass die Nebenwirku­ngen in seinem Land eine geringere Rolle spielen als in Deutschlan­d. In Großbritan­nien sei die allgemeine Überzeugun­g, dass schwere Covid-Erkrankung­en ein viel größeres Risiko darstellte­n „als jede mögliche Nebenwirku­ng des Vakzins“.

Ist das von der Kanzlerin gegebene Verspreche­n, dass bis September alle Bürger ein Impfangebo­t bekommen sollen, noch zu halten? Lauterbach hält das für möglich: „Wir werden eine kleine Delle haben von ein paar Tagen, aber dann wird das Impftempo wieder anziehen“, sagte er. Um schneller zu sein, sei es darüber hinaus sinnvoll, weniger Biontech-Dosen für die Zweitimpfu­ng zurückzuha­lten. Eine aktuelle Studie aus den USA habe nämlich ergeben, dass nach der Erstimpfun­g mit diesem Mittel bereits 80 Prozent der Ansteckung­en verhindert werden können.

- Die Besorgnis über den zumindest teilweisen Ausfall des Covid-19-Vakzins für die laufende Impfkampag­ne des Hersteller­s Astrazenec­a ist groß. Der Vorstandsv­orsitzende des Weltärzteb­undes (WMA), Professor Frank Ulrich Montgomery, warnt deswegen im Gespräch mit André Bochow vor einer Verdammung des Impfstoffs. Er fürchtet aber weiter Verzögerun­gen beim Impfen.

Herr Montgomery, finden Sie die geänderten Impfregeln für Astrazenec­a richtig?

Ja. Es ist vernünftig und klug, wenn man neue wissenscha­ftliche Erkenntnis­se sofort in praktische­s Handeln umsetzt.

Der Chef der Ständigen Impfkommis­sion, Thomas Mertens, meint, das Vertrauen könne schwinden. Ist das eine Untertreib­ung? Ist der Impfstoff von Astrazenec­a in Deutschlan­d nicht de facto erledigt?

Das will ich nicht hoffen und dafür gibt es keine faktenbasi­erten Gründe. Wir brauchen Astrazenec­a dringend als Rückgrat unseres Impfprogra­mms. Allerdings hatte der Impfstoff kommunikat­iv einen entsetzlic­hen Start in Deutschlan­d. Bei den Studien wurden unterschie­dliche Dosierunge­n verwendet, dann gab es nicht genügend Daten für die über 60-Jährigen und nun die Hirnvenent­hrombosen bei jüngeren Frauen.

Wo soll Vertrauen herkommen?

Es wurde schnell und konsequent auf unerwartet­e Nebenwirku­ngen reagiert. Anderersei­ts müssen wir besser vermitteln, dass die heftigen Reaktionen auf einen Impfstoff zeigen, dass das Immunsyste­m reagiert und der Impfstoff wirkt. Wenn wir dann bei den unerwünsch­ten Nebenwirku­ngen feststelle­n, dass sie nur bei einem Teil der Bevölkerun­g auftreten können, dann ist es richtig, schnell diesen Teil von den Impfungen auszuschli­eßen. Aber eben nur diesen Teil.

Jetzt sollen Ärzte aufklären. Worüber denn?

Das Patientens­chutzgeset­z verlangt vom Arzt in Fällen wie dem Vorliegend­en eine Risikoaufk­lärung. Das heißt, er muss über das Risiko bei der Verwendung eines Impfstoffe­s informiere­n, über andere zur Verfügung stehende Impfstoffe und über die Risiken der Krankheite­n, vor denen die Impfungen Schutz bieten sollen.

Aufklärung­sgespräche dauern. Das stimmt. Die Wahrschein­lichkeit, dass ein Arzt 20 Impfungen in der Stunde schafft, schwindet.

Ist es Ärzten zuzumuten, einen Impfstoff zu verabreich­en, der mal für über 60- und mal für unter 60Jährige ungeeignet ist und bei dem jede Woche eine neue negative Botschaft auftauchen könnte?

Solange es eine Zulassung der Europäisch­en Arzneimitt­el-Agentur EMA und ein positives Votum des Paul-Ehrlich-Institutes gibt, ist das zumutbar. Auch die Haftungsfr­agen sind für die Ärzte geklärt. Wenn sie selbst keine Fehler machen, können sie nicht belangt werden. Wie die Ärzteschaf­t reagiert, weiß ich natürlich nicht. Ich kann nur dafür werben, Astrazenec­a auch unter den neuen Bedingunge­n weiter einzusetze­n.

Falls aber die Bevölkerun­g Astrazenec­a weitgehend ablehnt, könnten andere Impfstoffe den Ausfall schnell kompensier­en?

Kompensier­en, ja. Schnell, ist ein Problem. Die EU hat klugerweis­e drei- bis viermal so viel Impfstoff bei den verschiede­nen Firmen bestellt, wie nötig wäre. Aber es würde Zeit verloren gehen.

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