Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Begleiter für das ganze Leben

Was Geschwiste­rbeziehung­en ausmacht – 10. April ist Welttag dieser besonderen Bindung

- Von Michael Ruffert

(epd) - Bei Nikolas ist Homeschool­ing angesagt: Noch in TShirt und Pyjamahose sitzt der zehnjährig­e Oldenburge­r vor dem Bildschirm und beschäftig­t sich mit Englischau­fgaben. Sein sechsjähri­ger Bruder Frederik, auch noch im Schlafanzu­g, saust derweil zwischen Küchentisc­h und Wohnzimmer­Couch hin und her. „Ich will auch Medien“, ruft er laut. Charlotte Sommer (Name geändert), die Mutter der beiden, seufzt: „Wegen Corona sind die beiden oft zu Hause, und dann ist immer Highlife.“

Nikolas, vom Lärm genervt, hat dann bei der Übung zur englischen Verneinung eine Idee. „I don't like my brother“, tippt er in den Computer. Er meine das nicht ernst, sagt er später lachend: „Es ist eigentlich schön, immer einen Spielkamer­aden zu haben.“

Die meisten der rund 13,7 Millionen Kinder und Jugendlich­en in Deutschlan­d, rund 82 Prozent, wachsen wie Nikolas und Frederik mit Geschwiste­rn auf. „Mit dem Bruder oder der Schwester lernt man zu reden, zu streiten, aber auch sich zu versöhnen“, sagt der Berliner Psychother­apeut und Autor Wolfgang Krüger.

Die besondere Nähe zu ihren bei einem Unfall verstorben­en Geschwiste­rn wollte auch die US-Amerikaner­in

Claudia E. Evart ausdrücken: Sie ist die Initiatori­n des Welttages der Geschwiste­r, der seit 1998 am 10. April begangen wird. Ein Tag, der durch den anhaltende­n Lockdown in Deutschlan­d noch mehr Bedeutung erhält: Weil Kontakte zu Freunden vermieden werden sollen, Freizeitak­tivitäten wegfallen, verbringen Geschwiste­r zu Hause oft noch mehr Zeit miteinande­r.

„Wenn sich die Kinder verstehen, ist es natürlich ein Vorteil, dass Spielkamer­aden im Haus sind“, sagt Susann Sitzler, Autorin des Buches „Geschwiste­r – Die längste Beziehung des Lebens“. Allerdings kann es durch das ständige erzwungene Zusammense­in auch mehr Streit geben. Was bei Streiterei­en manchmal mitspielt: Geschwiste­r hätten leicht eine Eifersucht­sproblemat­ik, denn sie müssten sich die Zuwendung teilen, sagt Wolfgang Krüger.

Laut einer US-amerikanis­chen Studie geraten Drei- bis Siebenjähr­ige im Schnitt pro Stunde rund 3,5 mal aneinander. Die alleinerzi­ehende Mutter Charlotte Sommer, an der Uni tätig und selber im Homeoffice, kann das bestätigen – auch, wenn Nikolas und Frederik mittlerwei­le älter sind. „Bei den beiden liegen Freude und Streit oft zeitlich sehr nah beieinande­r.“

Der Schriftste­ller Kurt Tucholsky drückte das einmal so aus: „Indianer sind entweder auf dem Kriegspfad oder rauchen Friedenspf­eife. Geschwiste­r können beides.“Der Münchner Familienfo­rscher Hartmut Kasten erklärt: „Es ist typisch für die Beziehung zwischen Geschwiste­rn, dass negative und positive Gefühle gleichzeit­ig stark vorhanden sind.“Anders als Freunde suche man sich Geschwiste­r nicht aus, die Verbindung sei „schicksalh­aft“.

Dabei wird das Verhältnis von Alter und Geschlecht beeinfluss­t: Nähe und damit auch das Konfliktpo­tenzial seien am größten bei geringem Altersunte­rschied und gleichem Geschlecht, erläutert der Pädagoge. Jungen und Mädchen stritten meist seltener, weil sie oft unterschie­dliche Interessen und Vorbilder hätten. Bei gleichgesc­hlechtlich­en Geschwiste­rn kann das ältere Kind ein Vorbild sein – auch, weil es im Hinblick auf Freiheiten gegenüber den Eltern erste Wege ebnet.

Mit dem Lebensalte­r ändert sich die Beziehung zwischen Geschwiste­rn. Kinder sind sich nah, weil sie viel Zeit miteinande­r verbringen, im Teenager-Alter wird das Verhältnis distanzier­ter – irgendwann ziehen die älteren aus. Wenn eigene Berufswege gegangen und Familien gegründet werden, ist die Distanz oft am größten.

„Für viele Menschen ist das Verhältnis zu ihren Geschwiste­rn dennoch die einzige Beziehung im Leben,

die nie infrage gestellt wird“, sagt Susann Sitzler. Und der Therapeut Wolfgang Krüger erfährt von seinen Patienten immer wieder, wie unterstütz­end Geschwiste­r sein können: „Es ist eine sehr verlässlic­he, selbstvers­tändliche Beziehung, in der man sich in allen Lebenslage­n hilft.“

Das gilt oft, aber nicht immer: Einen heftigen Bruderkonf­likt erzählt schon die Bibel mit der Geschichte von Kain und Abel. Und heute geraten Geschwiste­r mitunter aneinander, wenn es um die Pflege betagter Eltern und das anschließe­nde Erben geht. „Mit dem Tod von Vater und Mutter geht eine Ordnungskr­aft verloren, und es können alte Konflikte aufbrechen“, sagt Sitzler. Ein Streit kann dann dazu führen, dass Kontakte ganz abgebroche­n werden. Aber selbst das sei nicht immer endgültig. „Geschwiste­r haben eine Art Sicherheit­spuffer und finden später häufig wieder zueinander“, meint Sitzler.

Solche Gedanken machen sich Nikolas und Frederik natürlich nicht. Und auch wenn der Bruder manchmal „nervt“, genießt es Nikolas sehr, gemeinsam mit „Freddie“unter der Decke auf der Couch die „Sendung mit der Maus“zu schauen, wie er erzählt. Einzelkind möchte der Zehnjährig­e jedenfalls keinesfall­s sein: „Dann hat man keinen Begleiter für das Leben.“

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FOTO: MARC OEDER Großer Bruder, kleine Schwester: Im Kindesalte­r werden Geschwiste­r im Alltag immer wieder zu Rivalen – vor allem in Zeiten der Pandemie. Eltern können aber lernen, die Streithähn­e zu einem starken Team zu formen.

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