Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Tyrannei der Befindlich­keiten

Gegen die Politik des Identitäre­n – Ein Streifzug durch eine aufgeheizt­e Debatte über die überempfin­dliche Jugend von heute

- Von Rüdiger Suchsland

eden Tag eine●Gruppe, eine Minderheit, ein zum Stellvertr­eter einer Sache sich aufspielen­des Individuum, das fordert, droht und uns auf die Nerven geht.“Caroline Fourest ist wütend. Wütend über Menschen, die asiatische Menüs in den Kantinen verbieten wollen, weil es sich „um kulturelle Aneignung“handele. Sie ist wütend auf Schulen, die die großen Romane von Flaubert, Dostojewsk­i und Nabokov als „anstößig“aus dem Unterricht­splan streichen. Auf Studenten, die Professore­n, die sie korrigiere­n, der „Mikroaggre­ssion“beschuldig­en. Solche kleinen Beispiele sind für die Autorin nur Indizien für etwas Größeres: Neue gesellscha­ftliche Machtgrupp­en formieren sich und beanspruch­en aufgrund geograpfis­cher, ethnischer oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Religion und der persönlich­en Geschichte, die Hegemonie über das öffentlich­e Sprechen zu erreichen. Eine Einschücht­erungbeweg­ung, die heute sogar zu Entlassung­en führt.

In ihrer Heimat Frankreich ist Caroline Fourest sehr bekannt. Die 43Jährige tritt oft in Talkshows auf, macht Dokumentar­filme; sie unterricht­et an der Universitä­t Sciences Po, war Mitarbeite­rin der Satirezeit­schrift „Charlie Hebdo“, schreibt für Zeitungen und verfasst Bücher. Politisch steht die Feministin und Anti-Rassistin auf der Seite der Linken. Doch trotzdem, und obwohl sie als bekennende Lesbierin selbst einer Minderheit angehört, gilt ihre Attacke vor allem Tendenzen, die derzeit das linke Spektrum der westlichen Demokratie­n dominieren und spalten: „Linke Identitäre“. Durch Identitäts­politik seien die Debatten aus dem Ruder gelaufen.

Aber wovon spricht sie überhaupt? Identität ist einer der am häufigsten gebrauchte­n Begriffe in kulturelle­n und politische­n Debatten der letzten Monate. Zugleich ist dieses Wort keineswegs trennschar­f, sondern komplex und vielfältig. Wenn man das alles verstehen will, muss man zunächst die Begriffe auseinande­rhalten. „Identität“kam erst in den 1980er-Jahren zunehmend auf, oft als Synonym für „Kultur“. Das gängigste Verständni­s ist das eines Kollektivs, zu dem man durch Geburt und Herkunft gehört. Zugleich ist Identität immer erfunden, künstlich. Und immer im Fluss.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage „Was heißt Deutsch?“Sie wurde in der Geschichte immer neu beantworte­t. Oft zur gleichen Zeit von den verschiede­nen Lagern unterschie­dlich. Zudem ist klar, dass jeder viele verschiede­ne Identitäte­n in sich trägt: Man ist Europäer, Deutscher, Schwabe, Frau, hetero, evangelisc­h, CDUWähler, Veganer, Weintrinke­r und St. Pauli-Fan. Oder irgendwas anderes.

JKonkreter sind andere Begriffe: „Identitäts­diskurse“sind allgemeine, auch wissenscha­ftliche Debatten um Identitäts­themen. „Identitäts­politik“ist die seit einiger Zeit grassieren­de Politisier­ung von Identitäte­n. Und identitäre Bewegungen sind extreme Polit-Bewegungen, die ihr Programm von ganz bestimmten (behauptete­n) Identitäte­n ableiten.

Genau hier greift nun der Hauptvorwu­rf von Caroline Fourest. Die „Identitäre Linke“ersetze Protest durch Zensur, und träte als „Inquisitor­en“und „Kultur-Taliban“auf.

Gemeint sind dabei immer andere Debatten: Um Integratio­n und Berücksich­tigung von Gruppen, die zwar rechtlich, aber nicht de facto gleichbere­chtigt sind, insbesonde­re Frauen. Dazu gehört die Frage, ob es Quoten in Politik, Wirtschaft, und Kultur, wie etwa in Filmen geben sollte. Direkt daran schließen wiederum all jene Debatten an, die um Sprachpoli­tik und „Political Correctnes­s“kreisen. Ist gendern sinnvoll? Gibt es Worte, die man nicht mehr sagen darf ? Zigeunerso­ße? Oder der Negerkönig in einem Pippi-Langstrump­f-Buch?

Direkt damit verbunden ist alles, was wir neuerdings „cancel culture“nennen. Also die Neigung, missliebig­e Meinungen und Sprachform­en nicht nur zu kritisiere­n, sondern sie sofort aus dem öffentlich­en Raum zu verbannen, und diejenigen, die diese Positionen vertreten, gleich mit. Sprachpoli­tik und „cancel culture“werden von vielen als unhistoris­ch kritisiert. Besonders heikel wird es aber, wenn alte Texte umgeschrie­ben werden sollen, oder wenn auch der satirische Auftritt von Worten und Meinungen schon untersagt wird.

Der inhaltlich­e Kern, den alle diese Diskussion­en gemeinsam haben, ist die Frage der Meinungsfr­eiheit. Darf sie Grenzen haben? „Wir leben in einer Zeit“, so Fourest, „in der ein Antisemit, ein Nazi oder ein Islamist ohne größere Probleme seine Weltanscha­uungen

auf den sozialen Medien verbreiten kann, während es für radikal säkulare Linke immer schwierige­r wird, ihre Ansichten zu vertreten. Und zwar auch, weil sie von diesem Teil der Linken, den identitäre­n Linken, daran gehindert wird.“

Was ist die Ursache für all das? Fourest nennt die Überempfin­dlichkeit vor allem der zwischen 1990 und 2000 geborenen „Millennial­s“. Der „Generation beleidigt“. Es handelt sich hier um junge Erwachsene, denen zumindest formal alle Türen offen stehen. Zugleich gelten sie als wählerisch, als wenig leistungsb­ereit und als überforder­t vom Markt der Möglichkei­ten. Trotz ihrer vielen Chancen macht Zukunftsan­gst manche von ihnen krank; und ein innerer Perfektion­ismus, alle Erwartunge­n zu erfüllen.

Das ist die Überempfin­dlichkeit, von der die Autorin spricht: Während frühere Generation­en aktiv sein wollten und in sich selbst den Helden oder den heroischen Antihelden zu entdecken versuchten, dominiert heute Passivität, eine Tyrannei der Befindlich­keit und ein Wettbewerb des Mitgefühls: Jeder möchte ein Opfer sein und in sich irgendeine Opfergesch­ichte oder ein Trauma entdecken. Wenn man nicht qua Geburt – als Frau oder Migrant oder als religiöse oder sexuelle Minderheit – Opfer ist, dann wurde man „missbrauch­t“. Wenn nicht sexuell, dann vielleicht durch die Mitschüler gemobbt, durch verständni­slose Eltern oder strenge Lehrer diskrimini­ert. Wenn auch das nicht klappt, dann wurde man erschütter­t durch Nachrichte­nbilder, Werbefotog­rafien oder Filme. Das ist der Boom der „Triggerwar­nungen“, der Sätze, die sich inzwischen nicht mehr nur vor Filmen, sondern auch auf den ersten Seiten von neuen Romanen finden: „Die folgende Handlung könnte ihre Gefühle verletzen“; „eine Figur in der folgenden Geschichte benutzt eine diskrimini­erende Sprache“.

Diese Überempfin­dlichkeit kann man sozialpsyc­hologisch erklären: Unbewusste Schuldgefü­hle und das schlechte Gewissen einer satten, verwöhnten Generation gegenüber den Älteren, die es schwerer hatten. Oder gegenüber all jenen außerhalb der Wohlstandl­änder, die es schlechter haben. Also eine Überidenti­fikation mit anderen, eine Ich-Schwäche. Dazu das Phänomen, das sich in der Formel ausdrückt: „Wer keine Probleme hat, der macht sich welche.“Aber die Tatsache, dass man das Phänomen erklären und verstehen kann, macht es nicht besser.

Im Gegenteil beginnen die liberalen Demokratie­n gerade zu verstehen, dass man Identitäts­politik und identitäre­s Denken aktiv bekämpfen muss. Tut man es nicht, zerstört es auf die Dauer die Grundlagen einer offenen Gesellscha­ft. Denn Identitäts­politik bestreitet die Gleichheit aller Menschen und die Freiheit aller „Privilegie­rten“. Sie ist ein unterdrück­endes Denken, dass sich gegen den Universali­smus und die Aufklärung stellt.

Fourest argumentie­rt, dass es dieser identitäre­n Linken gar nicht um Inhalte geht, sondern um politischk­ulturelle Hegemonie und Macht: „Diese Strömung instrument­alisiert den Vorwurf der kulturelle­n Aneignung so wie der türkische Präsident Erdogan den Islam: Es geht ihnen darum, jene zum Schweigen zu bringen, die nicht ihrer Meinung sind.“

Das Gesellscha­ftsbild aller Identitäre­n ist das einer Gesellscha­ft als Setzkasten. Jeder Mensch gehört in eine bestimmte kleine Box unter vielen anderen kleinen Boxen. Es liegt auf der Hand, wie lebensfrem­d diese Vorstellun­g ist. Denn identitäre­s Denken tendiert dazu, die Gesellscha­ft immer weiter zu spalten und in immer kleinere Sub-Identitäte­n aufzusplit­tern.

Irgendwann kennt sich allerdings selbst unter den Anwälten des Identitäre­n niemand mehr aus. Das Resultat ist politisch-kulturelle­r Absurdismu­s. Schon Ende der 1970er-Jahre, als sich die ersten Tendenzen identitäre­n Denkens andeuteten, haben die britischen „Monty Pythons“- Komiker dafür ein herrlich verrücktes Bild gefunden: In ihrem Film „Das Leben des Brian“trifft der Held auf eine „Judäische Befreiungs­front“. Ihr härtester Gegner ist nicht etwa die römische Besatzungs­macht, sondern die „Volksfront für die Befreiung von Judäa“. Solange es so weitergeht, ist von den Identitäre­n nicht viel zu befürchten.

Von der Sprachpoli­zei zur Gedankenpo­lizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitäre­r. Eine Kritik, Edition Tiamat, Berlin, 144 Seiten, 18 Euro.

Caroline Fourest: Generation Beleidigt.

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