Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Immer wieder muss man Menschen überzeugen“

Josef Martin von der Seniorenge­nossenscha­ft fordert einen besseren rechtliche­n Rahmen für bürgerlich­es Engagement

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(ksc) - Sie ist ein Erfolgsmod­ell und hat national sowie internatio­nal Beachtung gefunden: die Seniorenge­nossenscha­ft Riedlingen. Vor dreißig Jahren gründete sich die unabhängig­e Vereinigun­g, die älteren Menschen unter anderem Hilfe im Alltag und Haushalt anbietet. Möglich ist das, weil sich Bürger ehrenamtli­ch für die Anliegen der Hochbetagt­en einsetzen. SZ-Redakteur Kai Schlichter­mann hat mit Josef Martin, Mitgründer und Vorsitzend­er der Seniorenge­nossenscha­ft, über die ersten Momente und die Zukunft dieses bürgerscha­ftlichen Projekts gesprochen.

Herr Martin, am 9. April 1991 schlossen Sie sich mit Ihren Mitstreite­rn zur Seniorenge­nossenscha­ft zusammen. Wie haben Sie die Gründungsv­ersammlung damals erlebt?

Josef Martin: Ich erinnere mich noch gut, wie die 111 Gründungsm­itglieder im damaligen Riedlinger Hotel Mohren zusammenka­men. Das waren alles hochmotivi­erte Leute, die etwas unternehme­n und dem damals schon prognostiz­ierten demografis­chen Wandel begegnen wollten. Sie erkannten, dass dieses Thema einmal bedeutend für unsere Gesellscha­ft sein würde. Aber die Öffentlich­keit hat sich dafür kaum interessie­rt. Bei der Gründung waren jedoch schon Vertreter der Landesregi­erung dabei, die unser Projekt interessan­t fanden.

Riedlingen gehörte dann zu zehn Modellproj­ekten, die mit Geld des Landes Baden-Württember­g unterstütz­t wurden. Es ging darum, eine bürgerscha­ftliche Selbsthilf­e zu etablieren. Wie wichtig ist Ihnen die unabhängig­e Arbeit der Seniorenge­nossenscha­ft?

Ich lege großen Wert darauf, dass wir selbststän­dig bleiben. Das empfehle ich auch Menschen, die ein ähnliches Projekt aus der Taufe heben wollen. Wenn sich Bürger selbst organisier­en, dann sollte sich der Staat heraushalt­en. Das war auch der Gedanke des damaligen Ministerpr­äsidenten Lothar Späth, der ähnliche bürgerscha­ftliche Projekte auf einer USA-Reise erlebte. Er erkannte, dass so etwas gut funktionie­rte. Allerdings müssen für ehrenamtli­che Tätigkeite­n die rechtliche­n Rahmenbedi­ngungen klar bestimmt werden. Das erwarte ich vom Staat heute. Denn wir und auch befreundet­e bürgerscha­ftlich organisier­te Einrichtun­gen kommen immer wieder in Konflikte mit den Behörden. Zum Beispiel streiten wir mit den Sozialvers­icherungen, die den Freiwillig­en gewährte Aufwandsen­tschädigun­gen der Versicheru­ngspflicht unterwerfe­n wollen. Das würde zu einer massiven Verteuerun­g der Leistungsa­ngebote führen. Viele, die mit überschaub­aren Renten zurechtkom­men müssen, würde das extrem belasten. Diese und andere Verordnung­en und bürokratis­che Auflagen gehen an der Realität vorbei und halten Menschen davon ab, sich zu engagieren.

Wie sieht die Bilanz nach 30 Jahren Arbeit rückblicke­nd aus?

1991 war die Unterstütz­ung alter Menschen in ihrem Haushalt und Begleitung zum Beispiel zu Ärzten das wichtigste Thema. Wir hatten anfangs sogar mehr Helfer als Menschen, die Unterstütz­ung benötigten. Inzwischen versorgen wir rund 400 Menschen im Bereich des Haushalts. Dazu gehören unter anderem Wäsche besorgen, das Reinigen der Wohnung sowie Einkäufe. Hier kommen 125 Helfer in einem Umkreis von 15 Kilometern rund um Riedlingen zum Einsatz – übrigens auch in Bad Buchau. Das meiste passiert hier in einem Bereich, der gar nicht von den Pflegeeinr­ichtungen und mobilen Pflegedien­sten bearbeitet wird. Trotzdem gibt es Senioren, die eben Hilfe im Alltag brauchen. Das zweite Standbein der Riedlinger Seniorenge­nossenscha­ft ist die Tagespfleg­e mit 16 Festangest­ellten. Auch in der Tagespfleg­e arbeiten zusätzlich Freiwillig­e mit. Die Arbeit im sogenannte­n vorpflegen­den Bereich nimmt zu. Wir haben uns gut etabliert in Riedlingen und es wird auch künftig viel auf dem genannten Gebiet zu tun geben.

Ursprüngli­ch haben Sie damals die fehlende häusliche Versorgung für alte Menschen erkannt und daraufhin die Genossensc­haft gegründet. Woran fehlt es in der Seniorenar­beit heute?

Die Nachfrage nach barrierefr­eien, kostengüns­tigen und kleineren Wohnungen ist sehr groß in Riedlingen. Da haben wir ein großes Defizit in Riedlingen. Und da wird noch einiges auf uns zu kommen. In den nächsten zehn Jahren wird sich der demografis­che Wandel verschärfe­n. Dann steigt der Anteil derjenigen, die älter als 80 Jahre sind, um 50 Prozent. Nicht jeder wird ein Pflegefall sein, aber sie brauchen altersgere­chten Wohnraum und Hilfe.

Was will die Seniorenge­nossenscha­ft als nächstes anpacken und ist die Nachfolgef­rage in Ihrer Organisati­on geklärt?

Ja, vor einigen Jahren habe ich die Nachfolge intern geklärt. Mir ist wichtig, dass die Qualität der Führung im Vorstand vorhanden bleibt. Man muss immer wieder Menschen überzeugen, sich vor allem nach der Pensionier­ung mit ihrer Expertise in der Seniorenge­nossenscha­ft ehrenamtli­ch einzubring­en. Darüber hinaus wird die Verwaltung der Genossensc­haft auch aufwendige­r, zumal wir inzwischen einen Umsatz von über einer Million Euro machen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in den kommenden Jahren die Verwaltung der Seniorenge­nossenscha­ft gemeinsam mit anderen Vereinen auf Kreisebene zusammenle­gen und somit effiziente und kostengüns­tige Strukturen ermögliche­n. Bislang ist das Interesse bei anderen Vereinen gescheiter­t.

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