Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Immer mehr Missbrauch­sfälle

Die Gewaltvorw­ürfe im deutschen Sport nehmen zu – Bislang fehlt eine nationale Strategie

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(dpa) - Die Worte unterschei­den sich, die Botschaft bleibt die gleiche. „Wir wollen, dass das endlich aufhört“, sagte eine junge Sportlerin. „Täglich erniedrigt zu werden, das hinterläss­t irgendwann Spuren“, sagte eine andere. „Ich hatte Angst, dass er meine Karriere zerstört“, erzählte zuletzt eine Athletin. Sie alle wurden schikanier­t, gequält, bedrängt, im schlimmste­n Fall sexuell missbrauch­t. Von Trainerinn­en oder Trainern.

Der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) wurde jüngst von Missbrauch­svorwürfen gegen den Freiwasser-Bundestrai­ner Stefan Lurz erschütter­t. Die Staatsanwa­ltschaft Würzburg ermittelt gegen den zurückgetr­etenen 43-Jährigen wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauch­s von Schutzbefo­hlenen. Lurz bestreitet die Vorwürfe. Am Olympiastü­tzpunkt Sachsen in Chemnitz warfen Ex-Weltmeiste­rin Pauline Schäfer und weitere Turnerinne­n der Trainerin Gabriele Frehse vor, sie im Training schikanier­t, Medikament­e ohne ärztliche Verordnung verabreich­t und keinen Widerspruc­h zugelassen zu haben. Frehse bestreitet die Vorwürfe. Das sind nur die bekanntest­en Fälle.

„Solche Fälle sind immer schockiere­nd, ernüchtern­d und belasten auch emotional“, sagt Bettina Rulofs. Die 49 Jahre alte Professori­n für Sportsozio­logie von der Bergischen Universitä­t Wuppertal ist Expertin für die Erforschun­g von Gewalt und sexualisie­rter Gewalt im Sport. Vor fünf Jahren leitete sie, damals an der Sporthochs­chule Köln, das Forschungs­projekt „Safe Sport“mit dem Uni-Klinikum Ulm, in dem Ausmaß und Formen sexualisie­rter Gewalt im Sport untersucht wurden. Es ist die bislang einzige große Erhebung zu dem Thema in Deutschlan­d. Diese zieht im Jahr 2021 zwangsläuf­ig Fragen nach sich. Haben Übergriffe, sexualisie­rte Gewalt oder Misshandlu­ngen im Sport zugenommen? Werden die Fälle heute eher öffentlich gemacht? Warum tun sich Teile des Sports noch immer so schwer mit der Aufarbeitu­ng? Und warum gibt es noch keine unabhängig­e und übergeordn­ete Anlaufstel­le für Betroffene?

Rulofs sagt: „Wir beobachten, dass das Thema mehr in das Bewusstsei­n der Öffentlich­keit, der Sportverbä­nde und auch der Sportler gerückt ist.“Verbände oder Vereine hätten sich „in den letzten Jahren auf den Weg gemacht“und seien „schon tolle Schritte gegangen“. Die Reiterlich­e Vereinigun­g etwa richtet mit Unterstütz­ung einer Psychologi­n einen Betroffene­nrat ein, der das Thema Aufarbeitu­ng sexualisie­rter Gewalt angehen soll. Der Deutsche Fechter-Bund hat eine eigene Anlaufstel­le zur Prävention sexualisie­rter Gewalt eingericht­et. Kinderund Jugendschu­tzbeauftra­gte sollten mittlerwei­le auch in kleinen Vereinen zum Pflichtper­sonal gehören. Zu oft jedoch hören sich erste Reaktionen noch so an: „Ziel des DSV ist es, potenziell­e Fälle umfassend aufzuarbei­ten und zu überprüfen, inwieweit bestehende Strukturen verbessert werden müssen, um zukünftig mehr Sicherheit zu schaffen“. Oder auch: „Der Deutsche Turner-Bund hat (...) einen Strukturwa­ndel gefordert.“

Das reicht aber nicht. Eine „Kultur des Hinsehens“fordert Maximilian Klein von der Vereinigun­g Athleten Deutschlan­d. Der 28-Jährige ist MitAutor eines Impulspapi­ers, das Ende Februar vorgestell­t wurde und sich für eine unabhängig­e Anlaufstel­le stark macht. Es brauche „eine Strukturun­d Kulturdeba­tte gleicherma­ßen“, sagt Klein. Diese hat sich seit einem öffentlich­en Hearing der Kommission zur Aufarbeitu­ng sexuellen Kindesmiss­brauchs der Bundesregi­erung im Oktober intensivie­rt. 93 Sportlerin­nen und Sportler hatten der Kommission über sexuelle Gewalt im Sport berichtet.

Ende Februar befasste sich der Sportaussc­huss des Bundestags mit den Vorgängen in Chemnitz. Der ehemalige Spitzentur­ner und Sportpolit­iker Eberhard Gienger sagte danach: „Dass der Sport nicht besser und nicht schlechter ist als die Gesellscha­ft, aus der er hervorgeht, das muss klar sein.“Und doch ist der Tenor viel zu oft: Verbände und Vereine allein sind im Umgang mit dem Thema überforder­t.

„Es stellt sich die Frage: Brauchen wir als Gesellscha­ft nicht eine Art nationale Strategie gegen Gewalt und Missbrauch im Sport?“, sagt Klein. „Warum müssen diese Berichte alle in den Medien landen und dann dort skandalisi­ert werden?“, fragt Bettina Rulofs – und liefert die ernüchtern­de Antwort gleich mit: „Ich habe den Eindruck, dass Betroffene hier offensicht­lich Orte suchen, wo sie mit ihren Erfahrunge­n und Berichten gehört werden und dass diese Orte im Sport noch nicht genügend existieren.“

Länder wie die USA, Kanada oder Australien sind weiter. Dort gibt es bereits unabhängig­e Anlaufstel­len. Solch ein Zentrum soll auch in Deutschlan­d entstehen, erste Schritte sind getan: Anfang Mai wird sich der Bundestag mit dem Thema befassen, danach dürfen die „Athleten Deutschlan­d“ihr Papier der Politik vorstellen.

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FOTO: HERBERT RUDEL/IMAGO IMAGES Auch sie klagte ihre Ex-Trainerin Gabriele Frehse an: Weltmeiste­rin Pauline Schäfer.

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