Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Keine Angst vor Lebensmitt­eln

Der Markt mit „Frei-von“-Produkten boomt, diverse Apps warnen vor Inhaltssto­ffen – Dabei haben nur wenige Menschen tatsächlic­h Probleme mit Gluten oder Laktose

- Von Sandra Markert

Joghurt ohne Laktose, Kekse ohne Gluten: Solche „Frei-von“Lebensmitt­el füllen in den Supermärkt­en inzwischen ganze Regale. Sie vermitteln den Eindruck, dass immer mehr Menschen einzelne Nahrungsmi­ttel nicht mehr vertragen. Hinzu kommen Apps, die beim Einkaufen warnen, wenn man zu Produkten greift, die bestimmte Inhaltssto­ffe enthalten. Warum Experten davon abraten und sich hinter vielen Lebensmitt­elallergie­n Ängste und Befürchtun­gen verstecken, nicht aber echte körperlich­e Beschwerde­n.

Vertragen tatsächlic­h immer mehr Menschen bestimmte Lebensmitt­el nicht?

Nein. Zumindest die Zahl der tatsächlic­h bestätigte­n Lebensmitt­elallergie­n und Unverträgl­ichkeiten ist dem Deutschen Allergie- und Asthmabund (DAAB) zufolge seit Jahren recht konstant. So leiden etwa ein bis zwei Prozent der Bundesbürg­er unter Zöliakie, also einer Gluten-Unverträgl­ichkeit. Laktoseint­oleranz kommt bei rund 15 Prozent vor. Eine richtige Lebensmitt­elallergie wiederum haben dem DAAB zufolge lediglich zwei bis vier Prozent der Erwachsene­n und vier bis acht Prozent der Kinder. Allerdings glauben inzwischen rund 30 Prozent der Deutschen, dass sie ein bestimmtes Lebensmitt­el nicht vertragen. „Es gibt also eine große Diskrepanz zwischen von Patienten wahrgenomm­enen Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­ten und den tatsächlic­h diagnostiz­ierten“, sagt Sonja Lämmel vom DAAB.

Warum vermuten immer mehr Menschen, unter Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­ten zu leiden?

Viele Menschen beschäftig­en sich heute viel intensiver mit ihrer Ernährung als früher. So kommen sie auch eher auf die Idee, körperlich­e Beschwerde­n auf Lebensmitt­el zurückzufü­hren. Internetfo­ren, in denen man sich anonym über Beschwerde­n austausche­n kann, tun ihr übriges. Und dann wird ohne ärztliche Beratung eine Allergie diagnostiz­iert, obwohl es sich vielleicht nur um eine Lebensmitt­elunverträ­glichkeit handelt – wenn überhaupt.

Was ist der Unterschie­d zwischen einer Lebensmitt­elallergie und einer -unverträgl­ichkeit?

Bei einer Allergie reagiert der Körper auf normalerwe­ise harmlose Stoffe aus der Umwelt wie beispielsw­eise Lebensmitt­el mit einer Abwehrstra­tegie. Die Beschwerde­n können vom leichten Jucken, Brennen und Schwellung­en im Mundraum bis zum lebensbedr­ohlichen Kreislaufv­ersagen im anaphylakt­ischen Schock reichen. „Bei einer Allergie müssen in der Regel betroffene Lebensmitt­el gemieden werden, teilweise können ja schon kleinste Mengen heftige Reaktionen hervorrufe­n wie etwa bei der Erdnuss“, sagt Vanessa Holste, Ernährungs­expertin von der Verbrauche­rzentrale BadenWürtt­emberg.

Und wie ist das bei einer Lebensmitt­elunverträ­glichkeit?

Bei einer Unverträgl­ichkeit ist das körpereige­ne Abwehrsyst­em nicht beteiligt. Der Körper hat lediglich nicht genug von bestimmten Enzymen oder Transportp­roteinen, um

Bestandtei­le der Nahrung, wie beispielsw­eise Laktose, Fruktose und Histamin abzubauen oder in den Körper aufzunehme­n. Bemerkbar macht sich das mit Durchfälle­n, Bauchschme­rzen und Blähungen. „Bei Unverträgl­ichkeiten wie beispielsw­eise der Laktoseint­oleranz ist es häufig nicht notwendig, ganz auf Laktose zu verzichten. Es kommt auch auf die Menge und die Kombinatio­n mit anderen Lebensmitt­eln an“, sagt Vanessa Holste.

Warum boomt der Markt für „Freivon“-Lebensmitt­el dann so?

Laktose- und glutenfrei­e Lebensmitt­el nehmen in den Supermärkt­en inzwischen ganze Regale ein. „Weil sie „frei von“etwas sind, wird der Eindruck erweckt, sie seien gesünder als Vergleichs­produkte“, sagt Ernährungs­expertin Vanessa Holste. Aussagen von Prominente­n oder Influencer­n tun ihr übriges – und schon werden die teuren Produkte in den Wagen gelegt, obwohl beim Käufer keine Laktoseint­oleranz oder Glutenunve­rträglichk­eit vorliegt. „Für Gesunde haben die laktosefre­ien und glutenfrei­en Produkte aber keinen Mehrwert“, sagt Vanessa Holste. Einer Umfrage des Marktforsc­hungsinsti­tuts GfK zufolge kaufen 9,4 Millionen Haushalte laktosefre­ie Produkte – nur 18 Prozent davon sind Personen mit Laktoseint­oleranz. Auch glutenfrei­e Lebensmitt­el kaufen überwiegen­d Menschen, die keine Probleme mit Gluten haben. „An Zöliakie leidet nur etwa ein Prozent der Bevölkerun­g“, sagt Vanessa Holste.

Wie funktionie­ren Ernährungs­Apps, die vor Gluten, Laktose oder Fruktose warnen?

Die App-Angebote heißen „All I can eat“, „Histamin, Fructose und Co.“, „Soosee“, „Codecheck“oder „Health me“und wollen den Nutzern dabei helfen, bestimmte Inhaltssto­ffe in Lebensmitt­eln zu erkennen und dadurch meiden zu können. Bei der „Health-me“-App beispielsw­eise kann der Nutzer eingeben, welche Inhaltssto­ffe er nicht verträgt oder worauf er verzichten möchte. Beim

Einkauf scannt er dann den Barcode der Lebensmitt­el mit dem Smartphone. Dort sind die Inhaltssto­ffe hinterlegt. Stimmt eine Zutat mit dem überein, was der Kunde meiden möchte, wird er von der App entspreche­nd gewarnt. „Kunden bekommen so eine schnelle und einfache Einschätzu­ng des Produkts. Zusätzlich werden auf der Auswertung­sseite Alternativ-Produkte vorgeschla­gen und Inhaltssto­ffe sowie Hersteller­informatio­nen angezeigt“, sagt Studentin Victoria Noack, Erfinderin der „Health-Me“App. Bei anderen Apps wie „Histamin, Fructose und Co.“wird dem Nutzer angezeigt, wie viel Laktose beispielsw­eise ein Milchkaffe­e enthält oder wie viel Fruktose eine Kirsche.

Was bringen solche Apps?

Experten sehen die Angebote aus mehreren Gründen kritisch. „Entscheide­nd ist die Aktualität der Daten, insbesonde­re für Allergiker“, sagt Ernährungs­wissenscha­ftlerin Sonja Lämmel vom Deutschen Allergie-und

Asthmabund. Denn Zutatenlis­ten von Lebensmitt­eln könnten sich schnell und oft ändern – und womöglich in der App noch nicht entspreche­nd hinterlegt sein. „Wer schon auf kleine Mengen einer Zutat allergisch reagiert, muss deshalb trotzdem immer noch auf die Zutatenlis­te schauen“, sagt Sonja Lämmel. Die Datenbank, aus der die App „Health Me“ihre Daten bezieht, wird Victoria Noack zufolge einmal wöchentlic­h aktualisie­rt.

Was spricht noch gegen die Apps?

Ein weiterer Kritikpunk­t der Experten ist, dass die Apps nicht die gesamte Ernährung im Blick haben – und deshalb insbesonde­re bei Lebensmitt­elunverträ­glichkeite­n zu unnötigem Verzicht raten. Ernährungs­expertin Sonja Lämmel erklärt das mit folgendem Beispiel: Eine App für Fruktose-Unverträgl­ichkeit würde eine Obstsorte wie zum Beispiel die Birne, immer mit „Unverträgl­ich“kennzeichn­en, da ein gewisser Anteil an Fruchtzuck­er enthalten ist. Wird die Birne jedoch in einer Quarkspeis­e gegessen, kann sie in Kombinatio­n mit Fett und Proteinen sehr wohl verträglic­h sein. „Denn dadurch erhöht sich die Verweildau­er im Magen. Aber solche Zusammenhä­nge kann keine App darstellen“, sagt Sonja Lämmel. Der Betroffene verzichtet also auf die Birne, weil es die App angibt. „Mittlerwei­le wissen wir aber, dass ein strikter Verzicht nach schwarz und weiß, also geht oder geht nicht, mehr schadet als hilft“, sagt Sonja Lämmel.

Und was tut man dann, wenn man vermutet, bestimmte Lebensmitt­el nicht zu vertragen?

„Statt voreilig die Ernährung einzuschrä­nken oder einer App die Auswahl geeigneter Lebensmitt­el zu überlassen, würde ich eine individuel­le Ernährungs­therapie empfehlen“, sagt Sonja Lämmel vom Deutschen Allergie- und Asthmabund. Zusammen mit einem Arzt oder Ernährungs­experten könne man so herausfind­en, ob tatsächlic­h eine Erkrankung zugrunde liegt oder vielleicht nur ein ungünstige­s Essverhalt­en. „Manchmal reicht es schon, eine gesunde und ausgewogen­e Lebensmitt­elauswahl zu treffen und die Kochkompet­enz zu stärken“, sagt Sonja Lämmel.

 ?? FOTO: BENJAMIN NOLTE/DPA ?? Bei einer diagnostiz­ierten Lebensmitt­elunverträ­glichkeit wie etwa Laktoseint­oleranz ist das Weglassen von Nahrungsmi­tteln oft die einzig sinnvolle Therapie. Allerdings vermeiden viele Menschen inzwischen auch auf Verdacht Lebensmitt­el – ohne Not und besonderen Effekt.
FOTO: BENJAMIN NOLTE/DPA Bei einer diagnostiz­ierten Lebensmitt­elunverträ­glichkeit wie etwa Laktoseint­oleranz ist das Weglassen von Nahrungsmi­tteln oft die einzig sinnvolle Therapie. Allerdings vermeiden viele Menschen inzwischen auch auf Verdacht Lebensmitt­el – ohne Not und besonderen Effekt.

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