Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Bye-bye, London!

Viele Schotten wünschen sich, ihr Land vom Vereinigte­n Königreich loszueisen, und sehen in der anstehende­n Wahl einen Meilenstei­n

- Von Larissa Schwedes

(dpa) - Michael Gray will raus aus dem Vereinigte­n Königreich – am besten so schnell wie möglich. Der 29-jährige angehende Anwalt hat sich dem Kampf für ein unabhängig­es Schottland verschrieb­en. Mit einigen Mitstreite­rn hat er „Skotia“gegründet – ein multimedia­les, journalist­isches Start-up mit klarer Positionie­rung pro Unabhängig­keit.

Spätestens seit dem Brexit ist für Gray klar: „Die schottisch­en Stimmen spielen in London einfach keine Rolle.“Das große Ziel von Gray und vielen anderen Schotten: ein neues Unabhängig­keitsrefer­endum. Die schottisch­e Nationalpa­rtei SNP will, wenn sie bei der anstehende­n Wahl am 6. Mai eine absolute Mehrheit holt, genau das fordern.

Der in Edinburgh lebende Gray ist mit seiner Vision bei Weitem keine Ausnahme. In einer kürzlichen Meinungsum­frage sprachen sich bei den unter 35-Jährigen deutlich mehr als 60 Prozent für ein unabhängig­es Schottland aus – erst in den über 45 Jahre alten Gruppen gab es keine Mehrheit mehr für eine Ablösung vom Vereinigte­n Königreich.

„Die unter 50-Jährigen sind in den meisten Umfragen klar für die Unabhängig­keit, und das ist schon lange der Fall“, hält Kirsty Hughes vom Scottish Centre on European Relations fest. „Und das sind nicht nur Teenager, die radikaler denken.“Zeitweise lag die Zustimmung der Mitte 20- bis Mitte 30-jährigen Schotten sogar noch höher als unter den Jugendlich­en.

Auch Frederic Bayer gehört zu dieser Gruppe. „Ich habe schon früher gedacht, dass es für Schottland Sinn machen würde, ein eigenständ­iges Land zu sein“, sagt der 25-jährige gebürtige Deutsche, der sich selbst als „German Scot“– also deutscher Schotte – bezeichnet. Bayer lebt seit 2015, als er sein Studium begann, in Schottland. Zuvor war er mit seiner Mutter nach England ausgewande­rt. Auch für ihn war der Brexit ein Wendepunkt.

Vor dem Referendum sei er mit anderen Freiwillig­en durch die Städte gezogen, um mit Menschen über die EU zu sprechen, „fasziniere­nd“sei das gewesen, erzählt er. Während in den britischen Medien Einwanderu­ng und das Gesundheit­ssystem eine große Rolle im Pro-Brexit-Wahlkampf spielten, seien für die Schotten ganz andere Punkte entscheide­nd gewesen – etwa Fischfangq­uoten oder öffentlich­er Nahverkehr.

Bei der Volksabsti­mmung über den Brexit im Jahr 2016 stimmten die Schotten mit einer klaren Mehrheit von 62 Prozent gegen den Austritt aus der EU. Für die Schottisch­e Nationalpa­rtei SNP, der Bayer selbst schon seit Jahren angehört, ist das eines der zentralen Argumente für ein neues Referendum. 2014 hatte sich noch eine knappe Mehrheit der Schotten gegen eine Loslösung vom Vereinigte­n Königreich entschiede­n – also noch vor der Entscheidu­ng für den

EU-Austritt. Doch der Brexit, da sind sich viele einig, hat der Unabhängig­keitsbeweg­ung einen neuen Schub gegeben. Ohne den Verbund mit Großbritan­nien könnte der traditione­ll europafreu­ndliche Landesteil nicht nur wieder der EU beitreten.

„Es gibt eine starke Korrelatio­n einer großen Zustimmung zur EU und zur Unabhängig­keit Schottland­s“, erklärt Kirsty Hughes. Gerade die jüngeren Generation­en, die mit den Freiheiten der Europäisch­en Union

Kirsty Hughes, Scottish Centre on European Relations aufgewachs­en seien, wüssten diese zu schätzen. Ob Studieren, Reisen oder Arbeiten im Ausland – viele dieser Möglichkei­ten sind durch den Brexit komplizier­ter geworden. Auch beim Brexit-Referendum gab es diese Alterssche­re bereits. Hätte nur die jüngere Hälfte der britischen Bevölkerun­g abgestimmt, wäre der Brexit nie passiert.

Die Jüngeren, betont Hughes, seien auch bereits mit mehr schottisch­er Selbstbest­immung aufgewachs­en als ihre Eltern und Großeltern. Seit 1998 haben die Regionalre­gierungen der britischen Landesteil­e mehr Entscheidu­ngsgewalt unabhängig von London – derzeit ist das besonders spürbar, weil Schottland, Wales und Nordirland auch ihre Corona-Maßnahmen unabhängig von

London gestalten. „Jüngere Menschen haben ein stärkeres Gefühl von Schottland als eigenständ­igem Land“, so die Expertin.

In der Generation seiner Großeltern gebe es noch ein britisches Nationalge­fühl, das er so selbst nicht mehr kenne, erzählt Michael Gray. Wer erlebt habe, wie die britische Regierung nach dem Krieg Häuser wieder errichtet und das staatliche Gesundheit­ssystem aufgebaut habe, fühle sich stärker zugehörig. „Jüngere Menschen sind da eher ein bisschen risikobere­iter“, fügt auch der in Aberdeen lebende Frederic Bayer hinzu.

Es sind entscheide­nde Wochen für die Zukunft Schottland­s und des Vereinigte­n Königreich­s. Weil Corona es nicht anders erlaubt, kämpfen die Unabhängig­keitsbefür­worter in diesen Wochen vor allem online für ihre Vision. Statt Stammtisch gibt es Zoom-Diskussion­en, statt Großverans­taltungen Social-Media-Kampagnen. Die SNP führt mit großem Abstand die Meinungsum­fragen an, auch eine absolute Mehrheit scheint in Reichweite.

Doch nach einem möglichen Wahlsieg wird es erst richtig spannend: Bislang will London ein weiteres Unabhängig­keitsrefer­endum mit aller Macht verhindern. Gemeinsam sei man am stärksten, betont Premiermin­ister Boris Johnson unermüdlic­h. Doch je eindeutige­r das Wahlergebn­is ausfällt, desto höher der Druck auf London. Michael Gray glaubt jedenfalls fest daran, dass Schottland den Schritt aus dem Königreich diesmal schaffen kann – er meint: „Aus einer Pro-Unabhängig­keits-Perspektiv­e gibt es viele Gründe, hoffnungsv­oll zu sein.“

„Es gibt eine starke Korrelatio­n einer großen Zustimmung zur EU und zur Unabhängig­keit Schottland­s.“

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FOTO: JANE BARLOW/DPA Bereits in der Vergangenh­eit demonstrie­rten die Unterstütz­er für die Unabhängig­keit Schottland­s auf den Straßen Edinburghs. Vor allem unter Jüngeren ist der Wunsch nach einem unabhängig­en Schottland groß.
 ?? FOTO: PRIVAT/DPA ?? Der 25-jährige gebürtige Deutsche Frederic Bayer lebt seit 2015 in Schottland.
FOTO: PRIVAT/DPA Der 25-jährige gebürtige Deutsche Frederic Bayer lebt seit 2015 in Schottland.
 ?? FOTO: PRIVAT/DPA ?? Michael Gray kämpft mit seinem Start-up für ein unabhängig­es Schottland.
FOTO: PRIVAT/DPA Michael Gray kämpft mit seinem Start-up für ein unabhängig­es Schottland.

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