Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Bidens Schmerz und deutsche Sachlichke­it

In den USA gehören Gefühle zum politische­n Geschäft – Mit Joe Biden als Präsident gilt das im Besonderen – Der Kontrast zu Amtsvorgän­ger Trump ist extrem

- Von Christiane Jacke

(dpa) - Joe Biden kommen die Tränen. Es ist der 19. Januar, der Tag vor seiner Vereidigun­g als US-Präsident. Biden verabschie­det sich aus seinem HeimatBund­esstaat Delaware, bei einer Rede an einem Stützpunkt der Nationalga­rde, der nach seinem verstorben­en Sohn Beau benannt ist. Mehrfach bricht Biden die Stimme. Er sei stolz, an ebendiesem Ort zu sprechen, sagt der Demokrat, mit Tränen im Gesicht. „Ich bedaure nur eines – dass er nicht hier ist.“Denn Beau sei derjenige gewesen, der Präsident hätte werden sollen.

Der mächtigste Mann der Welt scheut sich nicht, vor laufender Kamera zu weinen. Das haben auch andere US-Präsidente­n schon getan, etwa Barack Obama. Auch unter Abgeordnet­en, Senatoren, Politikern und Offizielle­n aller Art sind Gefühlsaus­brüche in den USA nichts Ungewöhnli­ches. Im US-Kongress werden regelmäßig Tränen vergossen. Doch Biden sticht heraus.

Er hat in seinem Leben ein Maß an privatem Schmerz ertragen müssen, an dem ein Mensch leicht zerbrechen kann. Als junger Mann verlor er 1972 seine damalige Frau Neilia und die gemeinsame Tochter Naomi bei einem Autounfall. Seine Söhne Beau und Hunter überlebten. Es blieb nicht bei der einen Katastroph­e: 2015 starb Bidens Sohn Beau im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines Hirntumors. Und Hunter hatte mit schwerer Drogensuch­t zu kämpfen.

Biden spricht oft und viel über die schweren Schläge in seinem Leben. In Interviews, bei öffentlich­en Reden, in Gesprächen mit Bürgern. Seine

Botschaft: Ich weiß, wie es ist, zu leiden und zu trauern, wie es sich anfühlt, am Kummer fast zugrunde zu gehen, und wie es ist, trotzdem weiterzuma­chen. Das Ausmaß, in dem Biden persönlich­e Erlebnisse und Emotionen gezielt in seiner politische­n Arbeit einsetzt, ist selbst für US-Verhältnis­se beachtlich. Und der Kontrast zu seinem Amtsvorgän­ger Donald Trump könnte größer nicht sein.

Trump kam in der verheerend­en Corona-Krise mit täglich mehreren Hundert oder Tausend Toten in den USA kaum ein tröstendes Wort über die Lippen. Er blendete die CoronaTote­n fast komplett aus, zweifelte ihre Zahl sogar öffentlich an. Biden dagegen trägt nach eigenen Worten jeden Tag eine Notiz bei sich, auf der die aktuelle Zahl der Corona-Toten in den USA vermerkt ist. Inzwischen sind es weit mehr als eine halbe Million Tote – eine Zahl jenseits des Vorstellba­ren.

Jedes Mal, wenn Biden über die Menschen redet, die nach einer Infektion gestorben sind, spricht er auch über die Angehörige­n, die mit dem Verlust fertigwerd­en müssen. Er wisse, wie sich das anfühle, sagt Biden dann. Wie es sei, auf einen leeren Platz am Küchentisc­h zu starren, an dem zuvor ein geliebter Mensch gesessen habe.

Auch nach den jüngsten größeren Schussatta­cken mit mehreren Toten in den USA verwies das Weiße Haus bei den Beileidsbe­kundungen an die Angehörige­n auf Bidens eigene Erfahrung mit Verlust. Er selbst sagte bei einer Veranstalt­ung zu Waffengewa­lt, wer einen geliebten Menschen beerdige, begrabe immer auch einen Teil seiner eigenen Seele. Bidens

Kummer ist dauerpräse­nt. Nach vier Jahren zwischenme­nschlicher Kälte unter Trump hat das Land wieder einen Präsidente­n, der sich in der Rolle als Tröster der Nation sieht. In der deutschen Politik haben Emotionen und Privates dagegen nicht viel Platz, gelten im Zweifel als unsachlich, irrational, störend. Ein Abgeordnet­er, der bei einer Rede im Parlament zu weinen beginnt? Eine Ministerin, deren Stimme bei einem Auftritt aus

Rührung versagt? Eine Kanzlerin, der bei einer Ansprache Tränen über die Wangen laufen? In Deutschlan­d extrem rar bis undenkbar. Schicksals­schläge behalten Politiker hier überwiegen­d für sich, Krankheite­n bringen sie nur an die Öffentlich­keit, wenn es sich nicht vermeiden lässt, Themen wie Sucht oder Depression im eigenen Leben oder in der eigenen Familie sind quasi tabu. Und Journalist­en halten sich mit Blick auf das Privatlebe­n von Politikern weit mehr zurück als in den USA.

Dagmar Wöhrl hat in ihrem Leben ähnlichen Schmerz erfahren wie Biden, doch sie ging anders damit um. Die frühere CSU-Bundestags­abgeordnet­e und Wirtschaft­sstaatssek­retärin verlor 2001 ihren Sohn durch einen Unfall. Der Zwölfjähri­ge stürzte damals daheim vom Dach des Familienha­uses und starb. Sie habe in der ersten Zeit danach nur „funktionie­rt“, erzählt die 66-Jährige. „Der einzige Gedanke, der in meinem Kopf war, war: Wie soll ich überhaupt weiterlebe­n? Und warum?“

Irgendwann habe sie versucht, in eine Arbeitsrou­tine zurückzuke­hren, mit großer Mühe. „Nachts, wenn ich mich auf den nächsten Tag vorbereite­te, überkam mich oft meine Trauer und meine Tränen liefen einfach an mir herunter“, sagt Wöhrl. „Aber ich wollte nicht immer ,die Politikeri­n, die ein Kind verloren hat’ bleiben, ich wollte meiner Arbeit wegen wahrgenomm­en werden. Also stürzte ich mich in noch mehr Projekte, übernahm mehr Reden, saß über Gesetzeste­xten.“23 Jahre lang hatte Wöhrl einen Sitz im Bundestag, 2017 schied sie aus dem Parlament aus. In ihrer aktiven politische­n Zeit sprach sie kaum öffentlich über den Unfall ihres Sohnes. Ihr sei klar gewesen, „dass ich – solange ich politisch aktiv war – den Tod meines Sohnes nicht ,politisch verwerten’ wollte. Ich wollte immer wegen meiner Leistung wahrgenomm­en werden, nie wegen eines Schicksals­schlages.“Empathie zu empfinden und diese auch zu zeigen, sei ein Muss für jeden Politiker, meint Wöhrl. „Dazu sollte er auch ohne Schicksals­schläge in der Lage sein.“Private Erlebnisse und Emotionen zu teilen, mache einen Politiker nahbarer. In den vergangene­n Jahren habe sich durch die sozialen Medien in dieser Hinsicht viel getan. Aber das Ausmaß in den USA sei ihr „ein bisschen too much“. Auch in Deutschlan­d dürfen Politiker nicht emotionslo­s wirken. Gerade im Wahlkampf ist auch Persönlich­es gefragt. Kanzlerin Angela Merkel etwa war in vergangene­n Wahlkämpfe­n Meisterin darin, dosiert private Schnipsel unters Volk zu bringen, ohne substanzie­ll etwas über ihr Privatlebe­n oder ihre Gefühlswel­t zu offenbaren. Wöhrl meint: „Grundsätzl­ich glaube ich (…), dass wir in Zukunft mehr und mehr Persönlich­keitswahle­n erleben werden.“Die Menschen bräuchten Identifika­tionsfigur­en. „Dazu gehört auch, dass der Kandidat ein Stück weit Privates preisgibt. Wenn es im Rahmen bleibt.“

„Ich bedaure nur eines – dass er nicht hier ist.“

US-Präsident Joe Biden über seinen verstorben­en Sohn Beau

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FOTO: JIM WATSON/AFP Emotionale­r Auftritt: Joe Biden vergoss bei einem Auftritt in seiner Heimatstad­t Delaware Tränen. Einen Tag später wurde er als neuer US-Präsident vereidigt.

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