Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Die gemeldete Inzidenz ist zu ungenau“

Auslöser für Corona-Beschränku­ngen müssen andere Werte sein, so Statistike­r Küchenhoff

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- Ausgangsbe­schränkung­en, Schulschli­eßungen und mehr: Mit solchen Maßnahmen will die Bundesregi­erung die dritte Corona-Welle stoppen. Die Corona-Notbremse soll in Kraft treten, wenn eine Region bestimmte Inzidenzwe­rte überschrei­tet – wenn also die Zahl der Corona-Fälle pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen über einer bestimmten Schwelle liegt. Das ergibt keinen Sinn, sagt Statistik-Professor Helmut Küchenhoff. Diese Bewertung betrachte undifferen­ziert alle Altersgrup­pen. Stattdesse­n müsse die Zahl der Neuaufnahm­en der Patienten in den Intensivst­ationen ins Blickfeld rücken, erklärt der Wissenscha­ftler im Interview mit Dominik Guggemos.

Warum halten Sie den politische­n Fokus auf die Sieben-Tage-Inzidenz für einen Fehler?

Die gemeldete Inzidenz ist ungenau. Wir haben oft Probleme durch den Zeitverzug in den Meldebehör­den. Der zweite Punkt ist die Dunkelziff­er. Es werden viele Fälle übersehen, und die Dunkelziff­er variiert über die Zeit.

Zum Beispiel wenn man an Schulen viel testet? Welcher?

Misst man überhaupt das Richtige? Die relevanten Größen einer Pandemie sind: Werden die Menschen krank und versterben sie? Die Inzidenz betrachtet undifferen­ziert alle Altersgrup­pen, dabei ist klar, dass die Wahrschein­lichkeit für einen schweren Verlauf ganz unterschie­dlich ist.

Stattdesse­n schlagen Sie vor, die Neuaufnahm­en auf die Intensivst­ationen in den Fokus zu rücken. Das Hauptargum­ent für die Einschränk­ungen ist ja, dass man die Überlastun­g der Intensivst­ationen vermeiden will. Warum also nicht darauf schauen? Die Neuaufnahm­en messen die Zahl der schweren Erkrankung­en. Es besteht eine klare Korrelatio­n: je mehr Neuaufnahm­en, desto größer werden die Probleme auf den Stationen. Außerdem gibt es bei dieser Zahl keine Dunkelziff­er und keine Möglichkei­t zur Beeinfluss­ung

durch mehr oder weniger Tests.

Was sind die Nachteile?

Derzeit ist die Erhebung der Daten nicht so gut geregelt. In den Zahlen, die die Vereinigun­g für Intensivme­dizin (DIVI) meldet, sind zum Beispiel auch Verlegunge­n mitgerechn­et.

Mit genug politische­m Willen ließe sich das Problem aber relativ einfach lösen, man müsste diese Zahlen ja nur gezielt erheben. Problemati­scher ist da schon die regionale Betrachtun­g, oder?

Das ist korrekt. So feingliedr­ig wie derzeit die Inzidenzen für einzelne Landkreise kann man die Neuaufnahm­en nicht herunterbr­echen. Auf Bundesland­ebene kann man aber gute Grenzwerte berechnen – und eine rationale Begründung für Maßnahmen liefern. Das würde auch die Diskussion öffnen.

Ist es nicht zu spät, wenn Menschen auf der Intensivst­ation liegen?

Bei der Inzidenz gibt es ja auch eine Verzögerun­g: Symptome, Testung, Meldung. Die Verzögerun­g bei den Neuaufnahm­en auf die Intensivst­ation ist da sogar geringer. Es ist besser, das Richtige etwas später zu messen als das Falsche früher. Ich plädiere nicht dafür, das als einzigen Indikator zur Bewertung der Pandemie heranzuzie­hen. Gut ist ein Ampelsyste­m, wie es zum Beispiel Berlin hat.

Wie stehen wir denn derzeit nach Ihrem Modell da?

Wir haben die Gesamtkapa­zität der DIVI-Daten angenommen und mit 30 Prozent gerechnet, die für CovidPatie­nten zurückgeha­lten werden. Darauf aufbauend gibt es Grenzwerte für die Bundesländ­er. In Thüringen wird dieser derzeit deutlich überschrit­ten, Berlin und Brandenbur­g sind knapp darüber, BadenWürtt­emberg ist genau am Grenzwert.

Wir verstehen den Verlauf der Pandemie vor allem anhand von Daten und Prognosen, eigentlich das Spezialgeb­iet von Statistike­rn. Werden diese von der Politik ausreichen­d gehört?

Nein, genauso wie Epidemiolo­gen. Andere Länder haben einen interdiszi­plinären Expertenra­t. Im Moment weiß man ja gar nicht im Einzelnen, wer gerade eigentlich die Regierung berät.

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FOTO: RÜDIGER WÖLK/IMAGO IMAGES An Inzidenzwe­rten in den Landkreise­n orientiere­n sich Behörden, um über Maßnahmen gegen die Pandemie zu entscheide­n.

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