Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Zwei Welten in Kreuzlingen und Konstanz
Einzelhandel und Außengastronomie sind in der Schweiz geöffnet – Wie wenige Hundert Meter einen großen Unterschied machen
KONSTANZ/KREUZLINGEN - Es ist kalt. Der Wind peitscht gegen die Zeltplane, die ein halbes Dutzend Tische vor dem Zapfenzieher im Schweizer Grenzort Kreuzlingen notdürftig vor den Böen schützt. Eigentlich kein Wetter für ein Mittagessen im Freien. Und doch ist hier jeder Tisch besetzt, denn: In der Schweiz ist die Außengastronomie bereits wieder erlaubt, auch der Einzelhandel hat geöffnet. Nur wenige Hundert Meter weiter, im deutschen Konstanz, ist das anders. Dabei unterscheidet sich die Entwicklung der Corona-Inzidenzzahlen kaum. Ein Besuch in den beiden Nachbarstädten.
„Die Leute scheuen die Kälte nicht“, sagt Debora Casamento. Sie arbeitet in der Küche im Zapfenzieher, einem kleinen Restaurant mit Bar in der Kreuzlinger Hauptstraße. Die Erleichterung über den großen Andrang selbst bei schlechtem Wetter ist ihr anzumerken. Anfang März waren in der Schweiz Geschäfte, Theater, Kinos, Zoos, Fitnesscenter und Freizeiteinrichtungen wieder geöffnet worden, Mitte April auch die Restaurantterrassen. Es gilt Maskenpflicht und eineinhalb Meter Abstand zwischen den Tischen einzuhalten. Vorher waren monatelang nur To-Go-Angebote erlaubt.
Wie sich die Öffnungen für den Außenbereich finanziell auswirken, könne sie noch nicht abschätzen, sagt Casamento, aber: „Es ist auf jeden Fall besser als nichts.“Auch die Gäste seien froh, immer wieder höre sie dankbare Stimmen. „Die Schließungen waren ein Einschnitt in die Lebensqualität. Man merkt die Erleichterung. Am Anfang gab es einen richtigen Ansturm von Gästen“, sagt Casamento. An den Tischen im Freien erklingt ein Stimmengewirr. Italienisch, Schwyzerdütsch und, ja, auch Schwäbisch und Alemannisch wird gesprochen. Die Grenze zu Deutschland, an der Kreuzlingen nahtlos in Konstanz übergeht, ist nur 500 Meter weit entfernt. Doch seit der Pandemie trennt die Nachbarstädte weit mehr als der Dialekt. Im März 2020 wurde die Grenze geschlossen, ein Schock für die Bewohner der beiden Städte. Freunde, Verwandte und
Liebespaare wurden getrennt, Pendler standen stundenlang im Stau. Selbst die „New York Times“berichtete über die plötzliche Trennung der Nachbarn. Seit Mitte Juni ist die Grenze zwar wieder geöffnet, doch für Reisen in beide Richtungen gibt es Beschränkungen. Deutsche dürfen zum Beispiel für notwendige Geschäftsreisen oder Verwandtschaftsbesuche in die Schweiz, für längere Aufenthalte ist unter Umständen ein negativer Test nötig und es wird Quarantäne nach der Einreise angeordnet. Reine Einkaufstouren sind nicht erlaubt. Wer aber ohnehin beruflich oder für einen Besuch bei Angehörigen in Kreuzlingen ist, gönnt sich gerne das mittlerweile ungewohnte Erlebnis, an einem Restauranttisch zu essen. „Es kommen schon immer wieder deutsche Gäste, aber momentan nicht mehr als zu Zeiten vor Corona“, sagt die Restaurantangestellte Debora Casamento.
Von den wenigen deutschen Gästen profitiert Nuray Bulut kaum. Die 50-Jährige ist selbstständig und führt die Modeboutique Weekend nur wenige Meter vom Zapfenzieher. Während dort allerdings reger Betrieb herrscht, kommen die Kundinnen nur tröpfchenweise in ihr Geschäft. Auch auf den Straßen sind keine mit Einkaufstaschen beladenen Menschen zu sehen, nur wenige Passanten blicken kurz in die Schaufenster, um dann weiterzuziehen. „Es lohnt sich nicht“, sagt Bulut, aber: „Was soll ich denn sonst machen?“Kleinunternehmer wie sie leiden extrem unter der Krise, sagt sie. Ihr selbst fehlen 80 000 Franken Umsatz, rechnet sie vor. Hilfe habe es zwar gegeben, aber längst nicht genug. „Die Leute kaufen keine Kleider, wenn es keine Anlässe gibt, sie zu tragen. Gestern hatte ich über den ganzen Tag verteilt drei Kundinnen. Wofür soll das reichen?“Eine Frau betritt den Laden, schaut sich kurz um und geht wieder. Eingekauft hat sie nichts. Bulut blickt ihr nach, zuckt mit den Schultern. Ihr wäre es lieber gewesen, es hätte einen harten und konsequenten Lockdown gegeben, mit gleichzeitiger Unterstützung für Kleinunternehmer.
Härter sind die Regeln für den Einzelhandel im benachbarten Konstanz. Die Straßen der Stadt sind, obwohl das Wetter inzwischen aufgeklart hat, beinahe menschenleer. Wo sich sonst in den engen Gassen der Altstadt mit dicken Einkaufstüten bepackte Touristen drängen, pfeift jetzt ungehindert der Wind über den Boden. Vor den Cafés sind Tische und Stühle abgesperrt und angekettet. An den Schaufenstern der meisten Geschäfte kleben Zettel mit Handynummern, über die Kunden Clickund-Collect-Termine vereinbaren können. Doch wer soll anrufen, wenn doch kaum jemand überhaupt in die Stadt kommt, um in die Schaufenster zu spähen? Beata Müller, Inhaberin der Boutique MadLena, kennt das Problem. „Die Politiker schauen nach Köln, Stuttgart oder Berlin, wenn sie die Regeln machen. Aber hier ist die Lage anders. Ich fühle mich, als würde unsere Branche gar nicht existieren“, sagt sie am Telefon. Click-undCollect helfe ihr kaum. „Es lohnt sich nicht, aber ich kann mir gar nicht erlauben, das nicht anzubieten.“ Während die Laufkundschaft und vor allem die kauffreudigen Besucher aus der Schweiz fehlen, stapelt sich im Laden die schon gekaufte Ware. „Das betrifft nicht nur Läden wie meinen, dahinter stecken Produktionsketten und Arbeitsplätze“, sagt Müller. Die Staatshilfe helfe ihr, Unkosten zu tragen, aber es bleibe kein Umsatz und Gewinn. „Ich lebe seit einem halben Jahr von Luft und Liebe“, schließt die Boutique-Inhaberin.
Nicht ganz so dramatisch ist die Situation in den Cafés der Innenstadt. Speisen und Getränke dürfen zum Mitnehmen gekauft werden, vor einigen Bars bilden sich kleine Schlangen. Trotzdem ist der Andrang mit normalen Zeiten nicht zu vergleichen. Im Café-Restaurant „Heinrich“steht Annika Löger allein hinter der Kasse und gibt Kaffee in Pfandbechern aus. „Normalerweise wären wir hier um diese Jahreszeit zu fünft im Einsatz“, sagt sie. Der Umsatz sei entsprechend zurückgegangen. „Die wenigsten wollen ihr Curry draußen im Stehen essen.“In einer Ecke im Hof stapeln sich ungenutzt Tische und Stühle. „Wir dachten schon ein paar Mal, dass wir bald loslegen können mit der Bewirtung draußen“, sagt Löger. „Aber dann wurde nichts daraus.“Auch im „Heinrich“fehlen Laufkundschaft und Urlaubsgäste. Annika Löger will der Politik keine Vorwürfe machen. „Es wurden Fehler gemacht, aber ich unterstelle da keine böse Absicht.“
Anders sieht es eine Kundin, die draußen ihren Kaffee trinkt. „Entweder macht man alles konsequent dicht oder man macht es so wie in der Schweiz“, sagt sie. Auch aktuell fahre sie lieber nach Kreuzlingen, als die Konstanzer Innenstadt zu besuchen.
Bei der Stadt Konstanz sind die Sorgen und Nöte bekannt. Eine Sprecherin berichtet von Existenzängsten bei Unternehmern. Genaue Zahlen nennt sie nicht, aber: „Als Tourismusstandort fehlen uns derzeit die Besucherinnen und Besucher und deren Kaufkraft“, sagt sie. Beide Städte, Konstanz und Kreuzlingen, haben mit Gutscheinaktionen, Hilfsfonds und Werbekampagnen versucht, zu helfen. Kreuzlingen lässt sich allein die Hilfe für Härtefälle 500 000 Franken kosten, Konstanz investierte etwas mehr als 200 000 Euro in Hilfskampagnen. „Gewerbe und Gastronomie haben einen extrem schweren Stand“, sagt Kreuzlingens Stadtpräsident Thomas Niederberger. Man habe durch die Hilfen der Stadt aber auch durch die staatlichen Hilfen in der Schweiz allerdings auch viele Gewerbetreibende gut unterstützen können.
Urban Ruckstuhl, Sprecher des Gewerbevereins Kreuzlingen, sieht neben all den negativen Folgen der Pandemie auch einen positiven Effekt: „Die Menschen besinnen sich wieder mehr auf die Geschäfte und Dienstleister vor Ort in der Region. Das spüren wir auch in Kreuzlingen.“Besonders vor Weihnachten seien – sonst sehr unüblich – auch Deutsche zum Einkaufen nach Kreuzlingen gekommen, weil dort mehr Geschäfte geöffnet waren. Die Lockerungen in der Schweiz sieht er als einen wichtigen Schritt an, in vielen Branchen, die
Bekleidungsindustrie ausgenommen, hätten die Kunden einen „Nachholbedarf gezeigt“. In der Bewertung sind sich Ruckstuhl und Stadtpräsident Niederberger einig: Die Öffnungen waren richtig.
Aber was ist mit der Inzidenz? Bislang geben die jüngsten Zahlen der Schweiz recht. In der Woche vom 26. April bis 2. Mai nahm die Zahl der gemeldeten Infektionen um rund 18 Prozent ab, wie das Bundesamt für Gesundheit am Donnerstag berichtete. Die Inzidenz pro 100 000 Einwohner sank von 168,8 auf 137,8 Ansteckungen, zugleich stieg aber die Zahl der Todesfälle von 50 auf 59. Im Kanton Thurgau, in dem Kreuzlingen liegt, sank die Inzidenz zum 2. Mai auf 121,3. Im Landkreis Konstanz lag sie zum gleichen Zeitpunkt bei 120, am Donnerstag wurde mit einem Wert von 99 die Marke von 100 nach längerer Zeit erstmals wieder unterschritten.
Während also der Umgang mit Einzelhandel und Gastronomie unterschiedlich ist, gleichen sich in den beiden grenznahen Gebieten die Inzidenzen an. Mittlerweile dürfen sich auch die Konstanzer Hoffnung auf Lockerungen machen: Seit Samstag sind neben Click-undCollect-Terminen auch Click-undMeet-Vereinbarungen in Geschäften möglich. Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) hat zudem am Donnerstag Öffnungsschritte für Einzelhandel und Außengastronomie im ganzen Bundesland noch vor den Pfingstferien angekündigt. Voraussetzung sollen Inzidenzzahlen von unter 100 an mindestens fünf aufeinanderfolgenden Werktagen sein. Man wolle Perspektiven öffnen, aber dabei das Pandemiegeschehen im Griff behalten, so Lucha. Deutsche Aerosolforscher hatten bereits im April in einem offenen Brief darauf hingewiesen, dass die Ansteckungsgefahr in Innenräumen lauert. Im Freien werde das Virus nur „äußerst selten“übertragen. Einem Restaurantbesuch steht also – wenn alles nach Plan verläuft – bald auch in Konstanz wenn überhaupt nur noch das Wetter im Wege. Allerdings: Auf der anderen Seite des Sees geht das schon ab Montag. Denn Lindau liegt bekanntlich in Bayern – und da gelten wieder andere Regeln als in Konstanz.