Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Börsenweisheit mit Tücken
Warum die Devise „Sell in May and go away“auch in die Irre führen kann
- Börsenweisheiten nennt man an der Wall Street das, was der Landwirtschaft ihre Bauernregeln sind. Aus langjährigen Erfahrungswerten glaubt man Muster ableiten zu können, die sich in einem einzigen Leitsatz ausdrücken lassen. Einer der bekanntesten davon ist die Devise „Sell in May and go away“– also, verkaufe im Mai und meide dann die Börse! Doch hält diese Börsenweisheit auch einem Praxistest stand? Tatsächlich ist der Mai einer der statistisch schwächeren Monate, weshalb manche Beobachter nun eine saisonal bevorstehende schwächere Phase erwarten. Statistisch gesehen erreichen die Märkte im Mai häufig einen hohen Stand, um in den folgenden Monaten teilweise zu schwächeln, weshalb man nach dieser Parole in dem Wonnemonat besser aussteigen sollte. Eine Ursache kann darin liegen, dass sich Anleger nach der im Mai zu Ende gehenden Dividendensaison zumindest vorübergehend von der Börse verabschieden.
Eine Analyse der monatlichen Kursentwicklung der Wall Street seit 1928 ergibt, dass US-Aktien in der Periode Mai bis Oktober die geringsten Kursgewinne aller Sechs-MonatsZeitfenster erzielen. Im Durchschnitt geht es nur 2,2 Prozent nach oben, während November bis April mit 5,3 Prozent empirisch die beste Anlagesaison ist. Festzuhalten gilt aber, dass im Börsensommer nicht wie im Sprichwort suggeriert Verluste drohen, sondern vielmehr Zugewinne winken, auch wenn sie unterdurchschnittlich sind. „Langfristige Anleger sollten deshalb auch in den Sommermonaten investiert bleiben“, rät daher Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege der Deutschen Bank. Er ist einer, der es für wahrscheinlich hält, dass sich in den kommenden Monaten Aktien aus anderen Regionen besser entwickeln werden als US-Titel.
Der US-Index S&P 500 ist vor dem Hintergrund der starken amerikanischen Konjunkturerholung bereits gut gelaufen und gilt inzwischen als recht teuer bewertet. STOXX Europe 600 und der japanische TOPIX können hingegen noch Aufholpotenzial bieten. Ebenso der Dax, der seit Jahresbeginn rund elf Prozent zugelegt hat.
Zur Einordnung der weiteren Erwartungen hilft dabei gewöhnlich der Blick auf die wirtschaftspolitische Großwetterlage. In China läuft es bereits seit geraumer Zeit wieder gut, und in den USA sorgt ein Konjunkturpaket von historisch hohen 1,9 Billionen US-Dollar für eine üppige Konjunkturspritze. Derweil halten die Notenbanken in New York und Frankfurt die Schleusen weit geöffnet. Die resultierende sprichwörtliche Flut hebe alle Boote, auch die „MS Deutschland“, sagt dazu Uwe Burkert, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Die Frühindikatoren für Deutschland und den Euroraum sind zuletzt kräftig gestiegen. „Das Einzige, was zwischen uns und einem soliden Aufschwung steht, sind eine erfolgreiche Impfkampagne und eine Rückkehr zum Alltag“, erklärt Burkert.
Tatsächlich beschreibt die Börsenweisheit von der „Flut, die alle Boote hebt“den Umstand, dass auch Aktien von schwachen Unternehmen nach oben gehoben werden, wenn der gesamte Markt zur Rally ansetzt – so, wie es im Grunde nach dem ersten Schock durch die Pandemie seit März 2020 der Fall ist. Und genau weil damals viele Anleger auf diesem Fünfjahrestief eingestiegen sind und die Parole „Sell in May and go away“gerade nicht beherzigt haben, haben sie ja Vieles richtig gemacht. Die seitdem andauernde Hausse zeigt dann auch, dass es im Aktienboom leichter ist, Kursgewinne erzielen zu können als in einer Baisse. Grundsätzlich spricht ja auch nichts dagegen, dass Privatanleger mit den „löchrigen Booten“Geld verdienen. Sie müssen nur darauf gefasst sein, Aktien von Unternehmen mit eher schwacher Bilanzqualität wieder rechtzeitig abzustoßen. Denn wenn sich die Flut wieder zurückzieht, sind dies die ersten Titel, die auf Grund laufen. Börsenweisheiten wie diese können also mal passen oder eben auch nicht. Immerhin wird der Leitsatz „Sell in May and go away“gerne ergänzt durch die Erinnerung: „But remember to come back in September“– denk‘ dran, im September wieder zurückzukehren! Auch wenn an der einen oder anderen Börsenweisheit durchaus etwas Wahres dran sein mag – am Ende sollten sich die Anleger immer auf Kennzahlen und die aktuelle Geschäftsentwicklung ihrer Aktienengagements rückbesinnen.