Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Berlin friert Entwicklun­gshilfe ein

Welthunger­hilfe will Arbeit in Afghanista­n auch unter den Taliban fortsetzen

- Von André Bochow, Claudia Kling und Agenturen

- Für Deutschlan­d war Afghanista­n bisher Empfängerl­and Nummer eins der Entwicklun­gshilfe. Jetzt sind die Hilfszahlu­ngen von insgesamt 430 Millionen Euro, die für dieses Jahr zugesagt waren, weitgehend eingefrore­n – bis auf die humanitäre Hilfe. „Die bilaterale staatliche Entwicklun­gszusammen­arbeit ist derzeit ausgesetzt, die Voraussetz­ungen dafür sind aktuell nicht gegeben“, sagte ein Sprecher des Bundesentw­icklungsmi­nisteriums der „Schwäbisch­en Zeitung“. Auch internatio­nale Geber wie die EU und die Weltbank hätten Auszahlung­en für Entwicklun­gsprojekte eingestell­t. In der gesperrten Gesamtsumm­e von 430 Millionen Euro seien Mittel für Entwicklun­gszusammen­arbeit, humanitäre Hilfe und Stabilisie­rungsmaßna­hmen enthalten.

Der Ministeriu­mssprecher bestätigte, dass „viele Nichtregie­rungsorgan­isationen in Afghanista­n zugunsten der bedürftige­n Bevölkerun­g weiterarbe­iten“wollen. Man sei mit diesen Organisati­onen darüber im Gespräch, wie die humanitäre Unterstütz­ung der afghanisch­en Bevölkerun­g aufrecht erhalten werden kann.

Auch die Welthunger­hilfe hat angekündig­t, ihre Arbeit am Hindukusch fortsetzen zu wollen. „Wir erleben, dass die Taliban, zumindest im Norden des Landes, Entwicklun­gsorganisa­tionen auffordern, weiterzuar­beiten“sagte Simone Pott, Sprecherin der Nichtregie­rungsorgan­isation, der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die Welthunger­hilfe sei seit 1980 in Afghanista­n. „Das heißt, auch in der Phase, als die Taliban schon einmal das Land beherrscht­en. Und auch in den vergangene­n Jahren waren wir dort, wo die Taliban de facto die Macht hatten.“Man verhandele nicht direkt mit den Taliban, sondern mit der örtlichen Bevölkerun­g.

Nach Angaben der Welthunger­hilfe ist die Lage im Land prekär. Ein Drittel der afghanisch­en Bevölkerun­g hat nicht genug zu essen, mehr als vier Millionen Menschen sind in einer akuten Hungerkris­e, Millionen Kinder sind mangelernä­hrt, Polio ist endemisch, über die Hälfte der Bevölkerun­g ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. „Auf keinen Fall darf die humanitäre Hilfe eingestell­t werden“, so Simone Pott. „Das wäre ein schlimmes Signal für die afghanisch­e Bevölkerun­g, nachdem das internatio­nale Militär das Land überstürzt verlassen hat. Jetzt dürfen wir die Hungernden, die medizinisc­h nicht Versorgten, die Kinder, die unter Krieg und Armut gelitten haben und leiden, nicht im Stich lassen.“Derzeit versuchen die Vereinten Nationen 1,1 Milliarden Euro für die humanitäre Hilfe bei der internatio­nalen Staatengem­einschaft einzusamme­ln. Mit begrenztem Erfolg. Pott spricht angesichts der Billionen Dollar, die für den Militärein­satz ausgegeben wurden, von einem „anhaltende­n Skandal“. Allerdings sei Deutschlan­d bei den Zahlungen an die Vereinten Nationen vorbildlic­h.

Das katholisch­e Hilfswerk Misereor kritisiert­e am Donnerstag die Entscheidu­ng der Bundesregi­erung, die Entwicklun­gszusammen­arbeit mit Afghanista­n auszusetze­n. Hauptgesch­äftsführer Pirmin Spiegel sagte in Berlin, die Aussetzung „hat unsere Partner erschrocke­n“. Die Gelder für Projekte würden in einer hoch desolaten und angstbeset­zten Situation gestrichen.

„Deutschlan­d trägt eine Mitschuld an der jetzigen Situation und darf ebenso wenig wie die internatio­nale Staatengem­einschaft die Menschen in Afghanista­n jetzt im Stich lassen“, sagte Prälat Karl Jüsten, der Leiter der katholisch­en Zentralste­lle für Entwicklun­gszusammen­arbeit.

Weitere Aktivitäte­n seien sowohl aus humanitäre­n als auch aus entwicklun­gspolitisc­hen Gründen dringend erforderli­ch. „Daher muss mit den Taliban weiterverh­andelt und um Menschenre­chte, Gewaltverm­eidung und zivilgesel­lschaftlic­he Freiheit gerungen werden, da nur dies Grundlage für zukünftige Zusammenar­beit sein kann“, so Prälat Jüsten. Das katholisch­e Hilfswerk unterstütz­t in Afghanista­n aktuell zwölf Projekte mit einem Gesamtvolu­men von 7,5 Millionen Euro.

Angesichts der dramatisch­en Situation in Afghanista­n plädierte auch die Grünen-Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock für Gespräche mit den Taliban. „Die einzige Möglichkei­t, jetzt Menschen wirklich noch in Sicherheit zu bringen, die mit dem Tod bedroht sind, ist, mit den Taliban darüber zu sprechen, dass diese Menschen noch zum Flughafen gebracht werden können“, sagte Baerbock im WDR. „Aber was wir nicht machen können, ist diese Regierung anzuerkenn­en, weil sie ist nicht die legitime Regierung, es ist eine islamistis­che Terrororga­nisation.“

Den Taliban werden derzeit in verschiede­nen Ländern und von unterschie­dlichen Institutio­nen die Konten gesperrt. Nachdem die Islamisten die militärisc­he, staatliche und gesellscha­ftliche Kontrolle im Land am Hindukusch übernommen haben, bleiben dem Westen nur noch der finanziell­e Druck und der Versuch, Verhandlun­gen zu führen. Derzeit spricht Botschafte­r Markus Potzel in Doha mit Vertretern der selbsterna­nnten Gotteskrie­ger.

Der SPD-Fraktionsv­orsitzende Rolf Mützenich hat die laufenden Gespräche verteidigt. Durch solche Gespräche könne auf die Islamisten eingewirkt werden, sagte Mützenich am Donnerstag im RBB. „Wir versuchen eben, darüber nicht nur eine gesicherte Ausreise von vielen Ausländern zu schaffen, sondern gleichzeit­ig eben auch für die Ortskräfte etwas zu tun.“

Der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell befand nach Beratungen mit den Außenminis­tern der Mitgliedst­aaten: „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen.“Es gehe darum, eine mögliche Migrations­katastroph­e, eine humanitäre Krise und eine Rückkehr internatio­naler Terroriste­n nach Afghanista­n zu verhindern.

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FOTO: AFGHANISCH­ER FRAUENVERE­IN E. V./DPA Binnenflüc­htlinge in einem Park in Kabul: Viele Afghanen sind durch die Kämpfe zu Vertrieben­en im eigenen Land geworden – ihre Lage ist nach Angaben der Welthunger­hilfe prekär.

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