Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Berlin friert Entwicklungshilfe ein
Welthungerhilfe will Arbeit in Afghanistan auch unter den Taliban fortsetzen
- Für Deutschland war Afghanistan bisher Empfängerland Nummer eins der Entwicklungshilfe. Jetzt sind die Hilfszahlungen von insgesamt 430 Millionen Euro, die für dieses Jahr zugesagt waren, weitgehend eingefroren – bis auf die humanitäre Hilfe. „Die bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit ist derzeit ausgesetzt, die Voraussetzungen dafür sind aktuell nicht gegeben“, sagte ein Sprecher des Bundesentwicklungsministeriums der „Schwäbischen Zeitung“. Auch internationale Geber wie die EU und die Weltbank hätten Auszahlungen für Entwicklungsprojekte eingestellt. In der gesperrten Gesamtsumme von 430 Millionen Euro seien Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und Stabilisierungsmaßnahmen enthalten.
Der Ministeriumssprecher bestätigte, dass „viele Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan zugunsten der bedürftigen Bevölkerung weiterarbeiten“wollen. Man sei mit diesen Organisationen darüber im Gespräch, wie die humanitäre Unterstützung der afghanischen Bevölkerung aufrecht erhalten werden kann.
Auch die Welthungerhilfe hat angekündigt, ihre Arbeit am Hindukusch fortsetzen zu wollen. „Wir erleben, dass die Taliban, zumindest im Norden des Landes, Entwicklungsorganisationen auffordern, weiterzuarbeiten“sagte Simone Pott, Sprecherin der Nichtregierungsorganisation, der „Schwäbischen Zeitung“. Die Welthungerhilfe sei seit 1980 in Afghanistan. „Das heißt, auch in der Phase, als die Taliban schon einmal das Land beherrschten. Und auch in den vergangenen Jahren waren wir dort, wo die Taliban de facto die Macht hatten.“Man verhandele nicht direkt mit den Taliban, sondern mit der örtlichen Bevölkerung.
Nach Angaben der Welthungerhilfe ist die Lage im Land prekär. Ein Drittel der afghanischen Bevölkerung hat nicht genug zu essen, mehr als vier Millionen Menschen sind in einer akuten Hungerkrise, Millionen Kinder sind mangelernährt, Polio ist endemisch, über die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. „Auf keinen Fall darf die humanitäre Hilfe eingestellt werden“, so Simone Pott. „Das wäre ein schlimmes Signal für die afghanische Bevölkerung, nachdem das internationale Militär das Land überstürzt verlassen hat. Jetzt dürfen wir die Hungernden, die medizinisch nicht Versorgten, die Kinder, die unter Krieg und Armut gelitten haben und leiden, nicht im Stich lassen.“Derzeit versuchen die Vereinten Nationen 1,1 Milliarden Euro für die humanitäre Hilfe bei der internationalen Staatengemeinschaft einzusammeln. Mit begrenztem Erfolg. Pott spricht angesichts der Billionen Dollar, die für den Militäreinsatz ausgegeben wurden, von einem „anhaltenden Skandal“. Allerdings sei Deutschland bei den Zahlungen an die Vereinten Nationen vorbildlich.
Das katholische Hilfswerk Misereor kritisierte am Donnerstag die Entscheidung der Bundesregierung, die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan auszusetzen. Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel sagte in Berlin, die Aussetzung „hat unsere Partner erschrocken“. Die Gelder für Projekte würden in einer hoch desolaten und angstbesetzten Situation gestrichen.
„Deutschland trägt eine Mitschuld an der jetzigen Situation und darf ebenso wenig wie die internationale Staatengemeinschaft die Menschen in Afghanistan jetzt im Stich lassen“, sagte Prälat Karl Jüsten, der Leiter der katholischen Zentralstelle für Entwicklungszusammenarbeit.
Weitere Aktivitäten seien sowohl aus humanitären als auch aus entwicklungspolitischen Gründen dringend erforderlich. „Daher muss mit den Taliban weiterverhandelt und um Menschenrechte, Gewaltvermeidung und zivilgesellschaftliche Freiheit gerungen werden, da nur dies Grundlage für zukünftige Zusammenarbeit sein kann“, so Prälat Jüsten. Das katholische Hilfswerk unterstützt in Afghanistan aktuell zwölf Projekte mit einem Gesamtvolumen von 7,5 Millionen Euro.
Angesichts der dramatischen Situation in Afghanistan plädierte auch die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock für Gespräche mit den Taliban. „Die einzige Möglichkeit, jetzt Menschen wirklich noch in Sicherheit zu bringen, die mit dem Tod bedroht sind, ist, mit den Taliban darüber zu sprechen, dass diese Menschen noch zum Flughafen gebracht werden können“, sagte Baerbock im WDR. „Aber was wir nicht machen können, ist diese Regierung anzuerkennen, weil sie ist nicht die legitime Regierung, es ist eine islamistische Terrororganisation.“
Den Taliban werden derzeit in verschiedenen Ländern und von unterschiedlichen Institutionen die Konten gesperrt. Nachdem die Islamisten die militärische, staatliche und gesellschaftliche Kontrolle im Land am Hindukusch übernommen haben, bleiben dem Westen nur noch der finanzielle Druck und der Versuch, Verhandlungen zu führen. Derzeit spricht Botschafter Markus Potzel in Doha mit Vertretern der selbsternannten Gotteskrieger.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat die laufenden Gespräche verteidigt. Durch solche Gespräche könne auf die Islamisten eingewirkt werden, sagte Mützenich am Donnerstag im RBB. „Wir versuchen eben, darüber nicht nur eine gesicherte Ausreise von vielen Ausländern zu schaffen, sondern gleichzeitig eben auch für die Ortskräfte etwas zu tun.“
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell befand nach Beratungen mit den Außenministern der Mitgliedstaaten: „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen.“Es gehe darum, eine mögliche Migrationskatastrophe, eine humanitäre Krise und eine Rückkehr internationaler Terroristen nach Afghanistan zu verhindern.