Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Raus aus der Opferrolle
29 Ravensburger wurden in Auschwitz ermordet, allein weil sie Sinti waren – Bis heute werden Angehörige der Minderheit ausgegrenzt – Doch sie wollen sich damit nicht abfinden
Zuschreibungen. Die tanzende Frau in den auffälligen Kleidern, die vermeintliche Freiheit durch das Umherziehen. Dabei war das Umherziehen Folge des Entzugs von Bürger- und Wohnrechten“, sagt sie. Dazu komme Diskriminierung in der Sprache und im Alltag. „Wenn ich das Z-Wort höre, hängen da für mich jedes Mal die 500 000 ermordeten Sinti und Roma dran, denen das Wort in den Konzentrationslagern auf den Arm oder Oberschenkel tätowiert wurde. Es tut sich ein schwarzes Loch auf.“Besonders junge Menschen will Reinhardt mit dem christlich geprägten Powerclub erreichen und unterstützen. Denn auch sie kennen die Diskriminierungen aus eigener Erfahrung.
„Auf dem Schulhof sagte ein Mitschüler zu mir: ,Dich hat der Hitler auch vergessen, zu vergasen'“, erzählt der 16-jährige Armani, der sich ebenfalls im Club engagiert. „Ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen soll“, sagt er. Die 19-jährige Joy berichtet von abfälligen Bemerkungen voller bösartiger Klischees über Diebstähle oder Wohnwagen durch Lehrer. „Wir müssen klarmachen, dass die Zeiten, in denen man so etwas ohne Konsequenzen sagen konnte, endgültig vorbei sind“, sagt Natalie Reinhardt. Ihr Ziel ist es, die abwertenden Vorurteile, die sich über Generationen übertragen und in Liedern oder Schulbüchern, auf dem Arbeitsmarkt und bei der
Wohnungssuche Niederschlag gefunden hätten, abzubauen. Auch den Blick der Ravensburger auf den Ummenwinkel, wo noch heute viele Sinti in Bungalows leben, die in den 1980ern gebaut wurden, will sie ändern: „Vom Stadtteil zum Teil der Stadt“lautet das Motto. Das Viertel liege zwar aus historischen Gründen rein geografisch etwas außerhalb, aber die Bewohner seien schließlich Ravensburger wie alle anderen auch. „Den Betroffenen von Rassismus zeigen wir: Es ist jemand für dich da, du hast Rückenwind.“Kämen solche Aussagen von Lehrerinnen und Lehrern, suche sie zunächst den persönlichen Kontakt. Wenn das nicht fruchte, den zur Schulleitung und zum zuständigen
Schulamt. „Wenn es darauf ankommt, setzen wir alle Hebel in Bewegung“, sagt Reinhardt.
Besonders die Arbeit an Schulen und die Aufklärung über die Geschichte ist ihr wichtig. Lange sei über Sinti und Roma nur geredet worden, „jetzt reden wir selbst über uns“. Phillip, 16, ebenfalls Teil des Powerclubs, hat damit früh angefangen. „In der Grundschule wusste niemand, dass ich Sinto bin. Auf dem Gymnasium habe ich dann früh eine Präsentation gehalten über die Geschichte und Kultur. Das kam gut an, vor allem weil viele, selbst die Lehrerinnen und Lehrer, dazulernen konnten.“
An Schulen und auf Ausstellungen zu gehen, statt der Opferrolle die Rolle der Aufklärer einnehmen, das ist das Ziel des Sinti Powerclubs. Dazu auch, Stolz und Selbstbewusstsein zu vermitteln auf die eigene kulturelle Identität. Phillip etwa ist stolz auf die eigene Sprache, Romenes, die viele Sinti sprechen. „Es ist etwas Besonderes, diese alte Sprache zu beherrschen. Auch die Zugehörigkeit zur Gruppe an sich gibt mir Stärke.“In erster Linie seien sie alle Ravensburger und Deutsche, sagt Natalie Reinhardt – aber eben auch Sinti. Joy, Phillip und Armani führen regelmäßig Besucher durch die Ausstellung im Humpis-Museum. Wenn es die Corona-Lage zulässt, wollen sie vermehrt in Schulklassen und an Hochschulen ihr Wissen vermitteln und Vorurteile bekämpfen, den fremdbestimmten Eindrücken eigene entgegensetzen.
Denn noch immer sind Vorurteile und Abwertung von Sinti und Roma in Deutschland weit verbreitet: Befragungen in der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergaben 2020, dass 28,6 Prozent der Befragten Probleme damit hätten, „wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“. Im hessischen Bad Zwesten wurde Anfang August eine Familie von einem Campingplatz verwiesen, weil nach den Statuten des Platzes Sinti nicht willkommen seien. Erst nachdem der Fall bekannt wurde, erfolgte eine Entschuldigung der Betreiber bei der Familie. Die Abneigung schlägt sich auch in Straftaten nieder. 2019 zählte das Bundesinnenministerium 78 antiziganistische Straftaten, 2018 waren es 73. In Singen sorgte Anfang des Jahres ein Polizeieinsatz für staatsanwaltliche Ermittlungen gegen vier Beamte. Sie hatten, so der Vorwurf, einen elfjährigen Jungen antiziganistisch beleidigt, ihm rechtswidrig Handschellen angelegt und den Kontakt zur Mutter verweigert. Die Ermittlungsergebnisse stehen noch aus. Im Jahr 2017 erfasste die Berliner Polizei ebenso rechtswidrig die Zugehörigkeit von Personen zur Gruppe der Sinti oder Roma. Ein Vorfall, der in der Community große Besorgnis auslöste. „Seit den Erfassungen in der NS-Diktatur sind wir sehr sensibel was Personendaten angeht“, sagt Natalie Reinhardt.
Besonders 2013 und in den Folgejahren, als viele Menschen aus Osteuropa nach Deutschland migrierten, gab es in Teilen der Bevölkerung Ängste und Vorbehalte, darunter könnten kriminelle oder bettelnde Sinti und Roma sein. Tatsächlich gehören laut unterschiedlichen Schätzungen nur fünf bis zehn Prozent der Einwanderer aus Osteuropa Sinti oder Roma an. Überhaupt basieren allein aufgrund der geringen Zahl von Sinti und Roma – zwischen 70 000 und
150 000 leben nach Angaben von Verbänden in Deutschland – die Vorurteile nicht auf persönlichen Begegnungen. Trotzdem entstanden zum Beispiel im Stuttgarter Schlossgarten wiederholt illegale Zeltlager, in denen Obdachlose aus osteuropäischen Ländern, darunter auch Roma, lebten. Anlieger klagten über Müll und Lärm. Ohne Schutzstatus hatten die Menschen in den Camps keine Aussicht auf Unterkünfte, der extremen Armut und Diskriminierung in der Heimat entflohen, lebten manche in Deutschland vom Flaschensammeln oder Betteln.
„Wir Ravensburger haben Schuld auf uns geladen.“
Scheinbar bestätigen Vorgänge wie in Stuttgart die Klischees über das Umherziehen und die Weigerung zur Sesshaftigkeit. Tatsächlich leben aber die allermeisten Sinti und Roma in Deutschland wie in Ravensburg seit Jahrzehnten an festen Wohnsitzen. „Die autochthonen Minderheiten und flüchtende Roma sind zwei paar Schuhe. Das Einzige, was sie verbindet, ist der Antiziganismus. Dass Sinti und Roma früher in Deutschland von Ort zu Ort zogen, lag schlicht und einfach daran, dass sie keinen Wohnsitz und keine Bürgerrechte haben durften“, sagt Natalie Reinhardt. Aufgrund der Geschichte hätten allerdings auch manche Sinti und Roma noch heute kein Vertrauen in Behörden oder Schulen – neben der Benachteiligung von außen ein mögliches Hindernis auf dem Bildungsweg und Grund für ein erhöhtes Armutsrisiko.
„Es hat sich aber auch schon viel getan. Heute sind viele Menschen viel sensibler als noch vor wenigen Jahren, was abwertende Begriffe angeht.“Auch die Politik habe Initiative gezeigt, konstatiert sie. „Alle Parteien, außer der AfD, haben ein Bestreben, den Antiziganismus abzubauen“, sagt sie. 2019 rief die große Koalition ein Expertengremium, die unabhängige Kommission Antiziganismus, ins Leben. Im Juli stellte sie ein Abschlusspapier vor, in dem der Antiziganismus als „strukturell in der europäischen Moderne angelegtes, vielschichtiges Phänomen langer Dauer“beschrieben wird. Die Auswirkungen des NS-Völkermords zögen sich „wie ein roter Faden“durch alle Bereiche. Die Kommission befand außerdem, dass Betroffene im öffentlichen Diskurs bislang kaum sichtbar seien. „Der Kampf gegen Antiziganismus verlangt höchste Wachsamkeit“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei der Vorstellung des Berichts. Er müsse zu einem Dauerthema gemacht werden.
Für den Weingartener Bundestagsabgeordneten Axel Müller (CDU) ist er das bereits seit 2019. Müller hielt damals eine viel beachtete Rede im Deutschen Bundestag, in der er betonte, dass der Minderheitenschutz „zur DNA einer Demokratie“gehöre. „Dass es einen Völkermord an Sinti und Roma gab, war schon lange klar“, sagt er heute. Doch die Beschäftigung damit habe lange nicht breit stattgefunden. Dass ausgerechnet die Justiz nach Ende des Zweiten Weltkriegs Sinti und Roma weiter massiv diskriminierte, stößt Müller heute noch sauer auf.
Im bereits erwähnten BGHUrteil von 1956 bezeichneten die höchsten deutschen Richter alle Verfolgungsmaßnahmen von vor 1942 als legitim. Sie seien durch „eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“selbst veranlasst gewesen. In der Urteilsbegründung setzte das Gericht Sinti und Roma mit „primitiven Urmenschen“gleich und bediente sich rassistischer Stereotype. „Das waren furchtbare Urteile. Eine Verhöhnung der Opfer durch die Justiz der Nachkriegszeit“, sagt Müller. Noch heute gebe es dumpfe Befürchtungen und Vorurteile in der Bevölkerung. „Es steht ein langer Lernprozess bevor, damit müssen wir bei der Bildung anfangen“, fordert der Bundestagsabgeordnete.
Also dort, wo sich Natalie Reinhardt, Joy, Philipp, Armani und die weiteren Mitglieder des Sinti Powerclubs bereits jetzt engagieren. Sie alle haben die Worte von Axel Müller gehört, auch die von Ravensburgs OB Daniel Rapp im Humpis-Museum. Sie alle waren tief bewegt, wie sie sagen. Doch sie wissen auch: Ihre Arbeit für eine Zukunft, die weniger von Antiziganismus geprägt ist, als die bisherige 600-jährige Geschichte von Sinti und Roma in Deutschland und in Ravensburg, hat erst begonnen.
Ravensburgs Oberbürgermeister Daniel Rapp
Infos zur Ausstellung im Ravensburger Humpis-Museum gibt es unter