Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Bei der Bundestagswahl ist diesmal alles offen
Zwölf Kandidaten bewerben sich um das Direktmandat im Wahlkreis Ravensburg
- So spannend war eine Wahl im Kreis Ravensburg wohl noch nie: Wird es den Grünen erstmals gelingen, der CDU wie bei der Landtagswahl auch das Direktmandat für den Bundestag abzunehmen? Für Amtsinhaber Axel Müller aus Weingarten wäre das bitter. Als einziger der drei amtierenden Abgeordneten aus dem Wahlkreis Ravensburg hat der 58-jährige Jurist keinen Platz auf der Landesliste. Bei ihm geht es um alles: Verliert er das Direktmandat, fliegt er aus dem Parlament heraus. Doch derzeit schwächeln auch die Grünen in Umfragen, und die SPD holt auf. Wer sind die Bewerber im Wahlkreis Ravensburg? Und wie sind ihre Chancen?
Politisch Interessierte erwarten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Axel Müller (CDU) und Agnieszka Brugger (Grüne). Vor vier Jahren siegte Müller in der gleichen Konstellation noch deutlich. Damals holte der Strafrichter 38,5 Prozent der Erststimmen, Brugger nur 20,2 Prozent. Klingt nach einem souveränen Abstand, allerdings war diese Differenz schon deutlich kleiner als bei der Bundestagswahl 2013. Damals gewann Andreas Schockenhoff (CDU) noch mit 51,6 Prozent der Erststimmen gegen Brugger mit 13,6 Prozent.
Während Müller hauptsächlich mit einer starken Präsenz im Wahlkreis punkten möchte und als Kümmerer gilt, hat sich die 36-jährige Politikwissenschaftlerin Brugger seit ihrem Einzug über die Grünen-Landesliste 2009 im Parlament einen Namen als Verteidigungspolitikerin gemacht. In ihrer Funktion als stellvertretende Fraktionsvorsitzende ist sie regelmäßig in Nachrichtensendungen zu sehen und medial sehr präsent – ein Vorteil gegenüber Müller.
Dritter Bundestagsabgeordneter aus dem Kreis Ravensburg ist Benjamin Strasser (FDP), der vor vier Jahren ebenfalls über die Landesliste seiner Partei in den Bundestag kam. Bei den Erststimmen landete er mit
10,1 Prozent nur auf Platz vier. Der 34-jährige Rechtsanwalt aus Berg, der auch im dortigen Gemeinderat und im Ravensburger Kreistag sitzt, beschäftigt sich in Berlin vorwiegend mit Innen- politik. Strasser ist auch Mit- glied des Untersuchungs- ausschusses, der den Terroranschlag von Anis Amri 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz politisch aufarbeitet. Der Jurist hat mit Platz sechs einen relativ sicheren Listenplatz angesichts aktuell guter Umfragewerte für die Liberalen. Es müsste schon dumm laufen, wenn er den Wiedereinzug ins Parlament verpasst.
Für die SPD tritt erneut die Journalistin Heike Engelhardt an, die am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg beschäftigt ist. Die 60-Jährige erfährt nach eigenen Worten seit einigen Wochen viel Zuspruch für ihre Partei und hofft, ihr Ergebnis von 12,4 Prozent bei den Erststimmen im Jahr 2017 diesmal deutlich verbessern zu können und überdies viele Zweitstimmen für Olaf Scholz zu holen. Die SPDKreisvorsitzende und Fraktionsvorsitzende im Ravensburger Gemeinderat möchte sich vor allem für mehr bezahlbaren Wohnraum einsetzen.
Sie steht auf Platz 21 der Landesliste, bei der letzten Wahl reichte es nur für 16 Abgeordnete, über dieses Ticket in den Bun- destag zu kom- men. Die SPD müsste daher schon einen deutlichen Sprung nach vorne machen, damit Engelhardt es nach Berlin schafft. Ganz ausgeschlossen ist es nicht.
Für die Linken tritt wieder Jasmin Runge (geboren 1993) an. Die gelernte Kinderpflegerin und Bildungswissenschaftlerin ist auch Vorsitzende der Linken im Kreis Ravensburg. 2017 holte sie 5,1 Prozent der Erststimmen. Die Fronreuterin setzt sich unter anderem für faire Löhne und Umweltschutz ein.
Erster neuer Kandidat der im Bundestag vertretenen Parteien aus dem Kreis Ravensburg ist Christoph Högel für die AfD, da sein Vorgänger Helmut Dietz aus Ravensburg nicht mehr antritt. Der 1990 in Gera geborene Elektrotechnik-Ingenieur Högel wohnt in Friedrichshafen. Er nennt Bildung, Digitalisierung und die Stärkung der Infrastruktur als seine Hauptthemen.
Neben den genannten Kandidaten treten sechs weitere Bewerber im Kreis Ravensburg für kleinere Parteien an. Der bekannteste dürfte Schornsteinfegermeister Siegfried Scharpf (ÖDP, geboren 1955) sein, der lange für die „Bürger für Ravensburg“im dortigen Gemeinderat saß und Fraktionsvorsitzender der ÖDP im Kreistag ist. Für die Freien Wähler tritt Diplom-Agraringenieur Günter Ruchti aus Weingarten an (geboren 1967), für „Die Partei“kandidiert Zusteller Lukas Rein aus Weingarten (geboren 1993). Weitere Kandidaten sind Lagerfacharbeiter Karl-Heinz Pauli (geboren 1953) aus Ravensburg für die Marxistisch-Leninistische Partei, Studentin Sona Pietsch aus Vogt (geboren 1994) für die „Menschliche Welt“und der Leutkircher Unternehmer und Journalist Julian Aicher (geboren 1958) für die Basisdemokratische Partei Deutschland. Nicht verwunderlich, denn Aicher trat im vergangenen Jahr wiederholt als Redner auf Querdenker-Demos auf.
Und wie sind die Gewinnchancen nach Ansicht der Meinungsforscher? Auf der Internetseite „Election.de“wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, nach der eine Partei die Erststimmen und damit das Direktmandat im jeweiligen Wahlkreis erringt. Die Wahlkreisprognose wurde erstmals zur Bundestagswahl 2002 vorgestellt und beruht auf einem datengestützten Projektionsmodell. „Sie berücksichtigt die langfristigen Wählerpotenziale und die Kandidaturen in den Wahlkreisen ebenso wie aktuelle demoskopische Trends sowie das voraussichtliche Stimmen-Splitting“, schreiben die Forscher.
Mit Stand vom 13. August – eine neuere Auswertung liegt aktuell nicht vor – liegt dabei im Kreis Ravensburg Agnieszka Brugger klar vor Axel Müller. Die Grünen-Politikerin gewinnt dabei mit einer Wahrscheinlichkeit von 62 Prozent. Dieser Prozentwert steht jedoch nicht für die Stimmenanteile, sondern für die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Wahlkreis gewinnt. Müller hat in dem Fall noch eine Chance aufs Direktmandat, Bewerber der anderen Parteien jedoch kaum. Bei der Landtagswahl im März lagen die Forscher von „Election.de“übrigens richtig und sagten nicht nur den erneuten Sieg von Manfred Lucha (Grüne) über August Schuler (CDU) im Wahlkreis Ravensburg korrekt voraus, sondern auch den erstmaligen und überraschenden Sieg von Petra Krebs (Grüne) über Raimund Haser (CDU) im Wahlkreis Wangen.
Zum Wahlkreis Ravensburg (294) gehören alle Städte und Gemeinden aus dem Landkreis Ravensburg mit Ausnahme von Aichstetten, Aitrach, Bad Wurzach und Kißlegg, die zum Wahlkreis Biberach (292) gehören. Dort treten Josef Rief (CDU), Martin Gerster (SPD), Anja Reinalter (Grüne), Florian Hirt (FDP), Rebecca Weißbrodt (AfD), Rainer Schaaf (Linke), Simone Bischof (Tierschutzpartei) und Sven Milverstaedt (Die Partei) an.
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