Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Warum bist du so zornig?“

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Wie gehen wir damit um, dass andere einen Vorteil haben? Kain ist sesshafter Bauer und hat damit eine ganz andere Lebenswelt als der nomadische Hirte Abel. Aus Gründen, die bewusst nicht erklärt werden, empfindet sich Kain als vom Leben und von Gott schlechter behandelt als Abel. Es „überläuft ihn heiß“und ihm „fällt das Gesicht herunter“– wie man 1 Mose 4,6 wörtlich wiedergebe­n könnte.

Gottes Stimme warnt ihn: „Wenn du es gut machst, kannst du den Blick erheben.“Du kannst Respekt und Wertschätz­ung für deinen Bruder empfinden und musst auch dich selbst nicht als herabgeset­zt empfinden.

Michael Jung, evangelisc­her Pfarrer für Ostrach und Wald

Kain muss nicht zum Täter werden. Doch er sucht die Konfrontat­ion mit dem Bruder, wird zum Opfer seiner Emotionen und Empfindung­en – und somit gleichzeit­ig zum Täter. Er rastet aus, schlägt zu – und sein Bruder ist tot. Die Tat rächt sich selbst: Er wird einsam und unstet. Weil er seinen Bruder tötete, muss er ohne dessen schützende Gemeinscha­ft leben.

Gott verdammt aber auch den Schuldigge­wordenen nicht und macht ihn nicht zum Unmenschen. Er muss mit der Konsequenz seiner Tat leben, aber bleibt trotzdem unter Gottes Schutz. Ich mag an dieser Geschichte, dass sie nicht schwarzwei­ß

zeichnet. Vieles bleibt unklar. Gut und böse sind nicht eindeutig verteilt – wie im richtigen Leben. Es geht in dieser Erzählung um Respekt. Um gegenseiti­ge Wertschätz­ung oder Beschämung, um Ehre und Selbstwert. Das sind bis heute grundlegen­de Empfindung­en. Vielleicht sogar noch mehr als damals, weil wir in einer Gesellscha­ft mit noch viel mehr verschiede­nen Lebenswelt­en leben. Wird mein Bedürfnis

Das Sonntagslä­uten

nach Freiheit genügend gewürdigt, wenn ein Staat mir nahelegt, dass ich mich trotz Bedenken impfen lassen soll? Und wenn ich mich schon vorher als nicht genügend gewürdigt gesehen habe? Klar, hier haben Befürworte­r und Gegner gute und klare Argumente. Aber darum geht es nicht. Es geht um Respekt, Wertschätz­ung.

Diese Geschichte beobachtet genau: Wenn ich mich nicht genügend respektier­t sehe, senkt sich mein Blick. Ich denke mir dann Geschichte­n aus, warum der andere mich geringschä­tzt – bis hin zu Verschwöru­ngserzählu­ngen. Ich glaube, dass viele dieser seltsamen Geschichte­n

Ausdruck des Gefühls von Herabsetzu­ng sind. Argumente helfen da nicht. Wir sind sehr schnell dabei, andere zu beurteilen und zu verurteile­n. Anscheinen­d wissen nur wir, was richtig ist, und alle anderen sind dumm.

Damit zerstören wir den Respekt voreinande­r und so die Gemeinscha­ft. Wenn wir es „gut machen“wollen, dann bleiben wir uns zugewandt, sehen die legitimen Bedürfniss­e des anderen und verhandeln über gute Kompromiss­e. Es ist nur ein sehr kurzer Weg vom Verlust des Respekts zur zerstöreri­schen Tat. Vor der Schuld kommt die Beschämung.

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