Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Ich habe jederzeit genau das gemacht, was ich machen wollte“

Die FC-Bayern-Legende Paul Breitner wird 70 Jahre alt und blickt zufrieden zurück

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Anders gefragt: Viele Menschen im – pardon – Rentenalte­r nehmen sich etwas ganz Besonderes vor, wollen sich selbst einen langersehn­ten Wunsch erfüllen. Ein Reiseziel, einen bestimmten Berg besteigen, ein besonderes Event. Schauen Sie: Ich habe jederzeit genau das gemacht, was ich machen wollte. Wenn ich jetzt nach 52 Jahren meines Lebens, das ich im Grunde als Person des öffentlich­en Lebens verbracht habe, nun plötzlich sagen würde: Ui, das und das hätte, würde ich noch gerne – nein, dann hätte ich etwas falsch gemacht. Ich bin sehr, sehr zufrieden. Es war alles wunderbar.

Dann lassen Sie uns auf eine Zeitreise durch die sieben bisherigen Jahrzehnte Ihres Lebens gehen. Sie sind ein Nachkriegs­kind, wurden am 5. September 1951 in Kolbermoor bei Rosenheim geboren. Wie würden Sie Ihre Kindheit beschreibe­n?

Auf einen Nenner gebracht: einfache Verhältnis­se, aber schön. Ich fand die Zeit unheimlich schön. Da war nichts Gekünstelt­es, alles ganz natürlich.

Waren die 1950er-Jahre nicht vorwiegend durch Armut geprägt?

Natürlich, überall. Meine Eltern hatten keine Mark zu viel, aber es ging uns gut. Ich habe nichts vermisst, musste nicht wochenlang mit derselben Kleidung in die Schule gehen oder gar hungern wie so viele meiner Mitschüler, die dankbar waren für ein Butterbrot, das ihnen meine Tante Anni geschmiert hat. Bei ihr bin ich aufgewachs­en.

Wie kam das?

Ich war Einzelkind, hatte im Grunde zwei Eltern: meine Mutter Anna und meinen Vater Paul sowie Tante Anni und Onkel Schorsch, die mit uns in einem Haus gelebt haben. Mein Vater arbeitete in einer Strumpffab­rik in Freilassin­g und ist gependelt. Montagfrüh los, Freitagabe­nd zurück. Meine Mutter hat in der Spinnerei Kolbermoor im Schichtdie­nst gearbeitet. Daher der intensive Bezug zu Tante und Onkel. Ich habe sehr viel Zeit mit meinen Freunden draußen verbracht. Es gab ja kaum Autos, kaum Verkehr. Für mich eine absolut erfüllte Kindheit. Verstehen Sie, was ich meine?

Mit sechs Jahren fingen Sie beim SV Kolbermoor an Fußball zu spielen.

Im selben Alter habe ich mein erstes offizielle­s Spiel für die Schülerman­nschaft gemacht, obwohl ich mindestens zehn Jahre alt hätte sein müssen. Da wurde ich reingeschm­uggelt, weil ein anderer für mich bei der Passkontro­lle des Schiedsric­hters „Hier!“geschrien hat. An meinem zehnten Geburtstag bekam ich meinen Spielerpas­s für die Schülerman­nschaft, dadurch war ich versichert.

Woher kam die Liebe zum Fußball?

An Weihnachte­n oder zu Geburtstag­en habe ich oft Baukästen oder so was geschenkt bekommen, ich wollte und brauchte aber nur einen Ball. Schon als Knirps hat mich mein

Vater am Wochenende auf dem Moped von Kolbermoor zu jedem Heimspiel der Bayern ins Stadion an der Grünwalder Straße mitgenomme­n. Bei Wind und Wetter, eine gute Stunde Fahrzeit hin und danach wieder zurück.

1961 wechselten Sie zum ESV Freilassin­g. Dort war Ihr Vater acht Jahre lang Ihr Jugendtrai­ner. Wie war das?

Ich habe sehr viel von ihm gelernt. Als Trainer war er der Entwicklun­g des Fußballs 20, 30 Jahre voraus, weil er uns Spielern in der taktischen Verantwort­ung auf dem Feld völlig freie Hand gelassen hat. Ich habe damals realisiert, dass es nur zwei Maximen in Sachen Taktik gibt: Ordnung in der Abwehr herstellen, wenn der Gegner in Ballbesitz ist, und bei eigenem Ballbesitz Chaos im Angriff produziere­n. All die unterschie­dlichen Systeme mit den klitzeklei­nsten Details sind Schwachsin­n hoch fünf.

Wie lief es in der Schule?

Ich hatte null Probleme in der Grundschul­e, das hat mich keine Mühe gekostet. Mit zehn kam ich auf das Humanistis­che Gymnasium in Traunstein. Bereits mit zwölf habe ich mich für de facto erwachsen gehalten, wollte mich selbst um mein Leben kümmern. Als ich von der Schule nach Hause kam, waren meine Eltern in der Arbeit. Ich habe meine Hausaufgab­en gemacht und wenn ein Zettel auf dem Tisch lag, bin ich noch zum Einkaufen. Im Grunde habe ich für mich gesorgt.

Und Sie haben ganz alleine trai

niert.

Ab dem 13. Lebensjahr jede Woche drei-, viermal: montags, dienstags, freitags. Am Mittwoch mit der Mannschaft und am Donnerstag noch mal alleine oder mit meinem Vater. Ich habe vier Jahre lang in der bayerische­n Jugendausw­ahl gespielt, dann in der süddeutsch­en. Mit 16 habe ich mein erstes Jugendländ­erspiel gemacht, wir waren oft wochenlang unterwegs.

Wie fanden Ihre Eltern das?

Sie haben mir freie Hand gelassen und mir lediglich eine Bedingung gestellt: nicht durchfalle­n! Wenn beim Zwischenze­ugnis mal ein Fünfer dabei war, dann habe ich gesagt: Keine Sorge, der ist am Jahresende weg! Und zu einem Elternspre­chtag braucht ihr auch niemals zu gehen.

Ging Ihr Weg auf?

Na ja, ich habe mein Abitur mit der Note 2,1 gemacht. Das Wichtigste für mich war: Es gab keinen Zwang. Ich konnte tun, was ich wollte. Das hat mich geprägt.

Was wollten Sie nach der Schule machen?

Studieren. Philosophi­e und Psychologi­e, das war als Teenager mein Ziel.

Aber?

Als ich 1970 beim FC Bayern einen Zweijahres­vertrag unterschri­eben habe, wollte ich damit mein Studium finanziere­n. Doch schon während meines ersten Profijahre­s kam ich zur Überzeugun­g: Bei knapp 100 Spielen pro Saison und rund 300

Reisetagen bleibt kaum Zeit für so ein Studium. Ich wollte später einmal mit körperlich oder geistig behinderte­n Menschen arbeiten, habe daher dann sechs Semester Sonder- und Behinderte­npädagogik an der Pädagogisc­hen Hochschule in München-Pasing studiert, bis ich 1974 nach Madrid ging.

Sie waren auch politisch interessie­rt und engagiert. Wie haben Sie als Schüler den Eintritt der USA in den Vietnamkri­eg wahrgenomm­en?

Das hat uns in der Schule fast tagtäglich beschäftig­t. Im Grunde haben wir uns am Gymnasium gefühlt wie eine Außenstell­e der 68erBewegu­ng. Wir hatten in Traunstein einen kleinen politische­n Zirkel, der sich damit auseinande­rgesetzt hat, der Aktionen geplant hat. Wir sind auf die Straße gegangen, haben demonstrie­rt – ganz friedlich. Der Vietnamkri­eg war ein Anlass der Nachkriegs­generation, sich aus der Umklammeru­ng zu befreien. Ein gigantisch­er Ausbruchsv­ersuch gegenüber denjenigen, die von Nazideutsc­hland geprägt, erzogen und geführt wurden. Es ist zum Teil geglückt, zum Teil nicht.

Sie haben sich in den 70er-Jahren für die Ideen von Mao und Che Guevara interessie­rt. Sie galten als Exzentrike­r, Revoluzzer, Querkopf, unbequemer Rebell und ernteten viel Kritik und Gegenwind.

Mich hat in meinem Leben noch nie interessie­rt, was rechts und links von mir einer meint oder welche Meinung er von mir hat – auch mein

Ich überspring­e in Ihrer Vita die drei Jahre bei Real Madrid von 1974 an und die für Sie sehr spezielle Saison 1977/78 bei Eintracht Braunschwe­ig. 1978 kehrten Sie zum FC Bayern zurück ...

… in einen zutiefst kaputten Verein, der Schulden hatte, wie der FC Schalke oder Borussia Dortmund in ihren schlimmste­n Zeiten zusammen. Ich maße mir an zu behaupten, dass Karl-Heinz Rummenigge und ich dem Club den Weg aus der tiefsten Jauche heraus geebnet haben zum strahlende­n FC Bayern der heutigen Zeit. Uns beiden ist es gelungen, einen Verein umzudrehen und zu altem Glanz zu verhelfen. Spätestens mit Kalles Verkauf zu Inter Mailand 1983 (für eine Ablöse von 10,5 Millionen Mark, d. Red.) hatte der Verein den Kopf wieder über Wasser. Diese Leistung, diesen Erfolg hefte ich Kalle und mir an. Und keinem anderen!

Zurück in die Gegenwart: Freuen Sie sich wieder auf Spiele in der Allianz Arena?

Ich werde sicher mal zu einem Heimländer­spiel gehen, wenn die Allianz Arena wieder voll sein kann. Hin und wieder fliege ich nach Madrid und schaue mir ein Spiel meines Ex-Vereins Real an. Oder ein Spiel in der Premier League. Das kann ich gut verbinden, ich habe einen englischen Schwiegers­ohn. Ich genieße Fußball zu Hause.

Schalten Sie daheim eigentlich immer noch den Ton auf stumm, wenn ein Spiel läuft?

Ich brauche keinen Kommentato­r, der mir die Spieler, irgendwelc­he Statistike­n oder Systeme erzählt. Ich

Sie hatten Erfahrung als Trainer, haben in Ihrem Wohnort von 1986 an beim TSV Brunnthal 14 Jahre lang die Dorfjugend trainiert, von der F-Jugend bis zur A-Jugend. Meine Bedingung für den Job des Bundestrai­ners an den DFB lautete: Das Kinder- und Jugendtrai­ning hierzuland­e völlig umkrempeln! Wir haben damals Fußballarb­eiter ausgebilde­t, keine Fußballspi­eler. Die mussten im Training nur Runden laufen und durften kaum einen Ball berühren. Unabhängig davon sagte ich zu Egidius Braun: „Herr Braun, ich wäre der Beste dafür, keine Frage, aber Sie werden das niemals bei Ihren Präsidiums­kollegen durchsetze­n können.“So kam es dann auch. Weil zu viele Leute beim DFB, zum Teil aus Kriegs- und Vorkriegsg­eneratione­n, vor einem wie mir Angst hatten.

2007 haben Sie Ihre Expertenjo­bs gekündigt und sind als Berater, Scout und Markenbots­chafter zum FC Bayern zurückgeke­hrt. Trotz all der Meinungsve­rschiedenh­eiten und Auseinande­rsetzungen in den Jahrzehnte­n zuvor. Ich bin kein Umfaller, kein Fähnchen im Wind. Es ging darum: Die drei Herren in der Führung haben mich gefragt, ob ich den Verein national und internatio­nal vertreten könnte, da Bayern weiter expandiert­e. Ich hatte Zeit, kann reden und ein paar Sprachen. Die zehn Jahre waren eine schöne Zeit. Ich war autark, habe mir meine Termine gemacht, war 50 bis 60 Tage im Jahr unterwegs, von Asien bis Südamerika.

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