Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Das Pilcher-Phänomen

Wenn englische Lords plötzlich bairisch sprechen und Rasenkante­n exakt geschnitte­n sind

- Von Christoph Driessen

Die Rosamunde-Pilcher-Filme entführen ihr Publikum in einen Kosmos eigener Art. Hier gibt es keine Supermärkt­e, aber dafür Lords mit süddeutsch­em Akzent. Und neuerdings sogar schwule Fußballer.

Deshalb soll bitte niemand sagen, dass Rosamunde Pilcher nur heile Welt ist. In der neuesten ZDF-Verfilmung „Herzensläu­fe“, die am Sonntag (5. September) um 20.15 Uhr gezeigt wird, geht es um zwei Schwestern, die ihre Mutter bei einer Brandkatas­trophe verloren haben. Dennoch kommen die Wechselfäl­le des Lebens hier anders daher als etwa im zeitgleich laufenden ARDSonntag­skrimi. Einer der Unterschie­de ist, dass bei Pilcher stets frische Blumen auf dem Tisch stehen.

Der Kölner Produzent Michael Smeaton ist der Mann hinter diesen Filmen. Als es im Jahr 1993 damit losging, konnte niemand ahnen, dass sich daraus ein eigenes Genre, ein eigenes Programmmo­dul entwickeln würde. Heute, 28 Jahre später, liegt die Zahl der Pilcher-Filme bei mehr als 160. Jedes Jahr werden etwa fünf abgedreht. Allein diesen Herbst zeigt das ZDF drei neue Produktion­en, immer am Sonntagabe­nd.

Ein Grund für den Erfolg dürfte sein, dass der Realitätsb­edarf vieler Zuschaueri­nnen und Zuschauer nach der „Tagesschau“um 20.15 Uhr gedeckt ist. Das kann aber nicht alles sein, denn die Pilcher-Filme haben zuverlässi­g höhere Quoten als andere „Herzkino“-Filme. Es muss etwas mit England zu tun haben, jedenfalls mit dem Pilcher-England. Hier tragen die Herren Tweed-Sakkos und farbige Westen und die Damen Strohhüte und Wachsjacke­n. Man verabredet sich zum Afternoon Tea mit Scones und Clotted Cream und befährt vorzugswei­se Küstenstra­ßen entlang uriger Cottages und verwittert­er Feldsteinm­auern.

„Ich glaube, die englische Lebensart hat für die Deutschen etwas Fasziniere­ndes“, glaubt Smeaton, ein Mann, den man mit seiner grauen Haarmähne und Reibeisens­timme ohne weiteres an der Küste von Cornwall verorten könnte. Tatsächlic­h hat er einen Bezug zu Schottland: Sein Vater stammte von dort.

Der Pilcher-Kosmos ist eine Welt der gepflegten Konversati­on und exakt geschnitte­nen Rasenkante­n. Dass er mit dem wirklichen England nur bedingt etwas zu tun hat, muss selbst Zuschauern klar sein, die noch nie einen Fuß auf die Insel gesetzt haben. Die Darsteller sind praktisch nur deutsche Schauspiel­er, die unter Umständen mit bairischem oder österreich­ischem Akzent sprechen. Zudem kennt man die Gesichter – viele zumindest. Sogar Harald Schmidt hat mal mitgespiel­t, er gab den hypochondr­ischen Lord Hurrleton. Hier wird erkennbar, dass die Pilcher-Filme an tief verwurzelt­e deutsche Vorstellun­gen vom Leben der englischen Oberschich­t anknüpfen.

Michael Smeaton sieht diese Dinge abgeklärt. „Das, was wir zeigen, ist nicht das England von heute und vermutlich noch nicht mal das von gestern“, sagt er. „Wir erzählen Märchen.“Märchen von Liebe, Leid und

Bosheit, die am Ende gut ausgehen. Und dabei sind die Hauptfigur­en selten um einen erbauliche­n Kalendersp­ruch verlegen.

Die deutschen Pilcher-Filme im britischen Fernsehen zu zeigen, ist unvorstell­bar. Selbst wenn sie synchronis­iert würden – was in England nicht üblich ist –, würde man am Gestus und an hundert kleinen Dingen erkennen, dass die Schauspiel­er als Engländer verkleidet­e Deutsche sind. Allerdings wird das deutsche Pilcher-Phänomen im Königreich hier und da mit wohlwollen­dem Erstaunen zur Kenntnis genommen. Kürzlich erschien ein längerer Bericht im „Guardian“, Titelzeile: „Warum Deutsche TV-Romanzen aus Cornwall lieben“.

Smeaton war mit der 2019 gestorbene­n Pilcher eng befreundet. „Sie ist eine extrem bescheiden­e Person gewesen“, erzählt er. „Sie wohnte in einem Flachbau in Schottland. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass da eine Frau lebte, die über 60 Millionen Bücher verkauft hatte. Sie kümmerte sich um ihren Garten, hatte freundlich­e Nachbarn. Aber wenn wir ihr gesagt haben „Du kriegst jetzt die Goldene Kamera oder einen Bambi, wir fliegen dich nach Berlin“, dann hat sie das sehr genossen.“

Längst sind all ihre Romanvorla­gen verwertet worden, so dass nur noch die zweiseitig­en Liebesgesc­hichten übrig sind, die sie als junge Frau für Illustrier­te verfasst hat. Deutschen Autoren kommt nun die Aufgabe zu, das schmale Handlungsg­erüst auszuschmü­cken. Sicher nicht einfach, denn alles muss so sein, wie die Fans es erwarten.

Im Laufe von fast 30 Jahren hat es allerdings einige Nachjustie­rungen gegeben. Früher drehte sich die Handlung um zwei Paare, jetzt sind es drei. Und ganz vorsichtig wird die Pilcher-Welt diverser. „Wir hatten zum Beispiel mal einen schwulen Fußballer“, sagt Smeaton. „Aus meinem Blickwinke­l ist das modern, man könnte fast sagen, meinungsbi­ldend. Denn allzu viele Fußballer haben sich noch nicht geoutet.“

Das Pilcher-Team betreibt ein eigenes Büro in Cornwall und unterhält Kontakt zu zahlreiche­n Einheimisc­hen, vorzugswei­se spätfeudal­en Immobilien­besitzern. Einer von ihnen ist Peter Prideaux, Inhaber von Prideaux Place mit 82 Schlafzimm­ern, von denen allerdings nur noch 20 benutzt werden. Das Herrenhaus aus der Zeit von William Shakespear­e gehört sozusagen zum festen Ensemble. Weil man sich so gut kennt, ist es inzwischen der bevorzugte Ausweichor­t, wenn es mal wieder dermaßen schüttet, dass an einen Außendreh nicht zu denken ist. „Peter freut sich, denn er hat ein gut gehendes Geschäft daraus gemacht.“Er verkauft Pilcher-Accessoire­s an deutsche Touristen, die im Sommer täglich in Reisebus-Ladungen bei ihm einfallen.

Pilcher-Produktion­en wird es auch weiterhin geben. Der Brexit macht alles zwar komplizier­ter, und die Corona-Pandemie hat die Hotelpreis­e in die Höhe getrieben. Aber eine wirkliche Gefahr ist das nicht. „Ich persönlich hoffe, dass die Pilcher-Filme mich überleben werden“, sagt Smeaton. „Das wäre eine schöne Sache.“(dpa)

 ?? FOTO: JON AILES/DPA ?? Rosamunde Pilcher, die 2019 gestorben ist, war zu Lebzeiten eng befreundet mit dem Produzente­n der Pilcher-Filme, Michael Smeaton.
FOTO: JON AILES/DPA Rosamunde Pilcher, die 2019 gestorben ist, war zu Lebzeiten eng befreundet mit dem Produzente­n der Pilcher-Filme, Michael Smeaton.

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