Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Flick kann Tor-Armut nicht wegzaubern
Der neue Bundestrainer will sich seine Premiere trotz des mühevollen Sieges nicht schlechtreden lassen
- Schnell waren sie verschwunden, die Sieger. Die deutsche Nationalelf machte Platz für die Sieger der Herzen an diesem Septemberabend in St. Gallens Kybunpark und überließ den Gastgebern aus Liechtenstein die Bühne für ihre umjubelte Ehrenrunde vor den knapp 8000 Fans. Ein 0:2 gegen Deutschland, gegen den viermaligen Weltmeister, ist ein riesiger Erfolg für die Nummer 189 der FIFA-Weltrangliste, platziert hinter Bangladesch und vor Brunei. Vor allem angesichts der Statistik: 29 Torschüsse und ein Ballbesitz-Anteil 85 Prozent für das DFBTeam. Dabei kam raus: wenig, kein wirklich erkennbarer Fortschritt.
Fünf Minuten nach Spielende kehrten die tatsächlichen Gewinner – zumindest vom Papier her – noch mal raus auf den Rasen, um sich beim Publikum zu bedanken. Imagepflege sollte schon sein, wenn man spielerisch nicht überzeugen konnte. Gegen das Fürstentum mit seinen Freizeitfußballern aus der 3. und 4. Liga in der Schweiz (überhaupt gibt es nur drei Profis im Nationalteam) erinnerte der DFB-Auftritt an die vielen schwachen Auftritte unter ExBundestrainer Joachim Löw in den zurückliegenden Jahren.
Es wurde eine schwere Geburt beim so lautstark verkündeten Neunanfang unter Hansi Flick. Das sah auch Aushilfskapitän Joshua Kimmich so, der meinte: „Das war ja eigentlich kein Fußballspiel. Es ist schwierig, dieses Spiel zu bewerten.“Und Kimmich, der als klarer Sechser zum Chefstrategen im Mittelfeld aufgerückt, tat es dann doch: „Natürlich haben wir uns vorgenommen, mehr Tore zu machen. Wir haben uns schwergetan. Es war komisch, schwierig, der Gegner hat dermaßen tief verteidigt, das habe ich so fast noch nie erlebt. Nichts hat so wirklich funktioniert.“
Eine ehrliche Analyse. Klar, dass Flick um Nachsicht und Milde warb nach dem Stotterstart einer Mannschaft, die so (ohne den angeschlagenen Manuel Neuer sowie die verletzten Thomas Müller, Mats Hummels und den Corona-infizierten Matthias Ginter) nie wieder zusammenspielen wird. Aber darf das eine Ausrede sein gegen den Underdog, gegen den die Bilanz der vier bisherigen Duelle 27:3 Tore für Deutschland lautete, wobei die Siege seit 1996 (ein 9:1) immer dünner ausfielen: 8:2, 6:0, 4:0. Nun ein schmales 2:0.
„Das ist ein Gegner, gegen den man höher gewinnen muss. Und ich verstehe, dass alle in Deutschland vielleicht ein bisschen enttäuscht sind vom Ergebnis. Aber wir alle wissen, dass wir einen Weg zu gehen haben, der hoffentlich ein bisschen länger ist.“Zu Beginn steht also ein Pflichtsieg, der keinerlei herbeigeredete Aufbruchstimmung verkörperte und nicht die erhoffte Euphorie nach zwei in den Sand gesetzten Turnieren im Lande auslösen wird. Die abwartende, teils bleierne Spielweise, die zum Achtelfinal-Aus bei der EM (0:2 in England) führte, sollte vom frischen Powerfußball made by Flick ersetzt werden. Der 56-Jährige verwies auf diese Phase: „Man merkt, dass die Mannschaft nicht so das Vertrauen hat, Tore zu erzielen. Wie wir die Chancen herausgespielt haben, war in Ordnung, aber der letzte Pass hat oft gefehlt. Wir haben es versäumt, ein frühes Tor zu machen, Vertrauen reinzubekommen.“Das alte Lied. Mit Blick auf die anstehenden Aufgaben gegen Überraschungstabellenführer Armenien (am Sonntag in Stuttgart) und in Island (Mittwoch) forderte Flick: „Wir müssen liefern, wenn's zählt.“
Läuft es für den gebürtigen Heidelberger in der Nationalelf so wie im November 2019, als er bei Bayern vom Assistenten zum Chef aufstieg, dann kann eine Leistungsexplosion gegen Armenien eingeplant werden. Denn auf ein ebenso mühsames und uninspiriertes 2:0 gegen Olympiakos Piräus folgte wenige Tage darauf ein kraftvolles 4:0 gegen Borussia Dortmund. Zudem machten gegen Liechtenstein Kleinigkeiten Mut. Vor allem die Szene vor dem 1:0. Hauptdarsteller: Jamal Musiala. Ballannahme, Mitnahme, Dribbling, Orientierung und der Steckpass auf Timo Werner, das war eine fließende Bewegung in wenigen Sekunden. „Dass Jamal die Qualität hat, hat er bei Bayern München im letzten Jahr und den letzten Wochen eindrucksvoll bewiesen“, freute sich Flick und versprach dem Flügelspieler bei seinem Startelfdebüt im DFB-Team indirekt weitere Einsätze von Beginn an: „Er ist immer eine Option.“Neben Musiala konnten auch Mittelstürmer Werner und Flügelspieler Leroy Sané, in ihrem Vereinen Chelsea und bei Bayern zuletzt Sorgenkinder, etwas Eigenwerbung betreiben. Was Flick freute. „Sie haben schon gezeigt, was für eine Qualität sie haben“, so der Bundestrainer. Man darf also weiterhin auf die neue Ära gespannt sein.