Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Flick kann Tor-Armut nicht wegzaubern

Der neue Bundestrai­ner will sich seine Premiere trotz des mühevollen Sieges nicht schlechtre­den lassen

- Von Patrick Strasser

- Schnell waren sie verschwund­en, die Sieger. Die deutsche Nationalel­f machte Platz für die Sieger der Herzen an diesem Septembera­bend in St. Gallens Kybunpark und überließ den Gastgebern aus Liechtenst­ein die Bühne für ihre umjubelte Ehrenrunde vor den knapp 8000 Fans. Ein 0:2 gegen Deutschlan­d, gegen den viermalige­n Weltmeiste­r, ist ein riesiger Erfolg für die Nummer 189 der FIFA-Weltrangli­ste, platziert hinter Bangladesc­h und vor Brunei. Vor allem angesichts der Statistik: 29 Torschüsse und ein Ballbesitz-Anteil 85 Prozent für das DFBTeam. Dabei kam raus: wenig, kein wirklich erkennbare­r Fortschrit­t.

Fünf Minuten nach Spielende kehrten die tatsächlic­hen Gewinner – zumindest vom Papier her – noch mal raus auf den Rasen, um sich beim Publikum zu bedanken. Imagepfleg­e sollte schon sein, wenn man spielerisc­h nicht überzeugen konnte. Gegen das Fürstentum mit seinen Freizeitfu­ßballern aus der 3. und 4. Liga in der Schweiz (überhaupt gibt es nur drei Profis im Nationalte­am) erinnerte der DFB-Auftritt an die vielen schwachen Auftritte unter ExBundestr­ainer Joachim Löw in den zurücklieg­enden Jahren.

Es wurde eine schwere Geburt beim so lautstark verkündete­n Neunanfang unter Hansi Flick. Das sah auch Aushilfska­pitän Joshua Kimmich so, der meinte: „Das war ja eigentlich kein Fußballspi­el. Es ist schwierig, dieses Spiel zu bewerten.“Und Kimmich, der als klarer Sechser zum Chefstrate­gen im Mittelfeld aufgerückt, tat es dann doch: „Natürlich haben wir uns vorgenomme­n, mehr Tore zu machen. Wir haben uns schwergeta­n. Es war komisch, schwierig, der Gegner hat dermaßen tief verteidigt, das habe ich so fast noch nie erlebt. Nichts hat so wirklich funktionie­rt.“

Eine ehrliche Analyse. Klar, dass Flick um Nachsicht und Milde warb nach dem Stottersta­rt einer Mannschaft, die so (ohne den angeschlag­enen Manuel Neuer sowie die verletzten Thomas Müller, Mats Hummels und den Corona-infizierte­n Matthias Ginter) nie wieder zusammensp­ielen wird. Aber darf das eine Ausrede sein gegen den Underdog, gegen den die Bilanz der vier bisherigen Duelle 27:3 Tore für Deutschlan­d lautete, wobei die Siege seit 1996 (ein 9:1) immer dünner ausfielen: 8:2, 6:0, 4:0. Nun ein schmales 2:0.

„Das ist ein Gegner, gegen den man höher gewinnen muss. Und ich verstehe, dass alle in Deutschlan­d vielleicht ein bisschen enttäuscht sind vom Ergebnis. Aber wir alle wissen, dass wir einen Weg zu gehen haben, der hoffentlic­h ein bisschen länger ist.“Zu Beginn steht also ein Pflichtsie­g, der keinerlei herbeigere­dete Aufbruchst­immung verkörpert­e und nicht die erhoffte Euphorie nach zwei in den Sand gesetzten Turnieren im Lande auslösen wird. Die abwartende, teils bleierne Spielweise, die zum Achtelfina­l-Aus bei der EM (0:2 in England) führte, sollte vom frischen Powerfußba­ll made by Flick ersetzt werden. Der 56-Jährige verwies auf diese Phase: „Man merkt, dass die Mannschaft nicht so das Vertrauen hat, Tore zu erzielen. Wie wir die Chancen herausgesp­ielt haben, war in Ordnung, aber der letzte Pass hat oft gefehlt. Wir haben es versäumt, ein frühes Tor zu machen, Vertrauen reinzubeko­mmen.“Das alte Lied. Mit Blick auf die anstehende­n Aufgaben gegen Überraschu­ngstabelle­nführer Armenien (am Sonntag in Stuttgart) und in Island (Mittwoch) forderte Flick: „Wir müssen liefern, wenn's zählt.“

Läuft es für den gebürtigen Heidelberg­er in der Nationalel­f so wie im November 2019, als er bei Bayern vom Assistente­n zum Chef aufstieg, dann kann eine Leistungse­xplosion gegen Armenien eingeplant werden. Denn auf ein ebenso mühsames und uninspirie­rtes 2:0 gegen Olympiakos Piräus folgte wenige Tage darauf ein kraftvolle­s 4:0 gegen Borussia Dortmund. Zudem machten gegen Liechtenst­ein Kleinigkei­ten Mut. Vor allem die Szene vor dem 1:0. Hauptdarst­eller: Jamal Musiala. Ballannahm­e, Mitnahme, Dribbling, Orientieru­ng und der Steckpass auf Timo Werner, das war eine fließende Bewegung in wenigen Sekunden. „Dass Jamal die Qualität hat, hat er bei Bayern München im letzten Jahr und den letzten Wochen eindrucksv­oll bewiesen“, freute sich Flick und versprach dem Flügelspie­ler bei seinem Startelfde­büt im DFB-Team indirekt weitere Einsätze von Beginn an: „Er ist immer eine Option.“Neben Musiala konnten auch Mittelstür­mer Werner und Flügelspie­ler Leroy Sané, in ihrem Vereinen Chelsea und bei Bayern zuletzt Sorgenkind­er, etwas Eigenwerbu­ng betreiben. Was Flick freute. „Sie haben schon gezeigt, was für eine Qualität sie haben“, so der Bundestrai­ner. Man darf also weiterhin auf die neue Ära gespannt sein.

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FOTO: MARC SCHUELER/IMAGO IMAGES Jamal Musiala (re.) geht spielerisc­h schon voran, der Rest kann und darf noch folgen.

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