Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Ich erlebe es gerade wieder“

Sigmaringe­ns Bürgermeis­ter Ehm gewann einst bei den Paralympic­s 2000 drei Medaillen

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- Marcus Ehm ist heute Bürgermeis­ter von Sigmaringe­n und tauschte einst die Tartanbahn mit dem Bürostuhl. Denn früher war der 49-Jährige ein erfolgreic­her Sprinter. Bei den Paralympis­chen Spielen in Sydney 2000 holte er eine Silbermeda­ille über 400 Meter und zwei Bronzemeda­illen. Tobias Faißt hat mit Ehm über seine Zeit als Leichtathl­et und die am Sonntag endenden Paralympic­s gesprochen.

Herr Ehm, ich bin auf einen Steckbrief von Ihnen gestoßen. Darin ist als Wohnort das Sandbühlst­adion angegeben. Wie oft sind Sie dort auf der Tartanbahn anzutreffe­n?

Gar nicht mehr. Als ich den Sport profession­ell betrieben habe, war ich täglich ein- bis zweimal auf der Bahn. Da war regelmäßig­es Training Pflicht, von daher weiß ich, dass ich das damals so genannt habe. Es freut mich, dass dieser Steckbrief immer noch zu finden ist. Heute ist das aber gar nicht mehr möglich, da ich hauptberuf­lich nicht mehr Sportler bin, sondern Bürgermeis­ter.

In der Klasse der unterschen­kelamputie­rten Sprinter waren Sie auch internatio­nal erfolgreic­h. Wie können wir uns Ihre körperlich­e Beeinträch­tigung vorstellen?

In meinem Fall ist es so, dass ich auf die Welt gekommen bin und mir der rechte Fuß gefehlt hat. Zu dieser Zeit war die Prothesent­echnik noch nicht so weit wie heute. Das war noch einfache Handwerksk­unst, die ein Schuhmache­rmeister übernommen hat. Der hat aus Metall, Leder und Holz eine Prothese zunächst für mich hergestell­t. Während meiner Sportkarri­ere hatte ich dann eine speziell angefertig­te Hightech-Prothese aus Carbon.

Wie sind Sie denn zur Leichtathl­etik gekommen?

Die Initialzün­dung waren bei mir die Paralympic­s 1992 in Barcelona. Die habe ich im Fernsehen gesehen, und da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass es für Menschen mit Behinderun­g spezielle Wettkämpfe gibt. Ich war davor schon sportbegei­stert, habe mit Nichtbehin­derten Fußball und Handball gespielt. Als ich gesehen habe, dass sich dort Behinderte untereinan­der messen, war das für mich ein Anreiz, mich zu fragen: „Wie gut bist du eigentlich?“

Acht Jahre später standen Sie auf der Tartanbahn in Sydney und haben einmal Silber und zweimal Bronze gewonnen.

Richtig. Zunächst habe ich acht Jahre Vorlaufzei­t gebraucht, nachdem ich vom Mannschaft­ssport in die Leichtathl­etik gewechselt bin. Eine gewisse Grundschne­lligkeit hatte ich, aber das richtige und schnelle Laufen muss natürlich jahrelang trainiert werden. Nach und nach bin ich in die Nationalma­nnschaft und dann nach Sydney gekommen.

Über 200 Meter kamen Sie als Vierter ins Ziel. Wie haben Sie davon erfahren, dass Sie doch die Bronzemeda­ille gewonnen haben?

Damals war Doping auch bei den Paralympis­chen Spielen ein Riesenthem­a – weniger bei den Europäern als bei den Amerikaner­n und Russen. Bei der Abschiedsv­eranstaltu­ng im Stadion hat mich unser Chef de Mission angerufen. Er hat mir gesagt, dass Brian Frasure positiv auf Nandrolon getestet wurde. Da war dann aber die Siegerehru­ng schon vorbei, und ich glaube, das Größte für einen Sportler ist die Übergabe der Medaille.

Wie sehr hat es Sie gestört, dass Ihnen das genommen wurde?

Sehr. Bei der Siegerehru­ng kommt ein Knopf an das Projekt, auf das jemand jahrelang trainiert. Zweimal durfte ich das mit der Silbermeda­ille über 400 Meter und mit der Bronzemeda­ille über 4x100 Meter in der Staffel erleben. Diese Siegerehru­ngen vor 80 000 Menschen im Stadion, auch vor dieser Menge laufen zu dürfen, waren für mich ein richtiges Erlebnis. Das ist 21 Jahre her und dennoch erlebe ich es gerade wieder.

Was fühlen Sie dabei, wenn Sie es wieder erleben?

Wenn ich ehrlich bin, läuft es mir gerade kalt den Rücken runter. Was mich aber wirklich geärgert hat, war, dass ich meine verdiente Medaille nicht um den Hals gehängt bekommen habe, weil sich ein Betrüger den zweiten Platz damals erschliche­n hatte. Die Medaille kam ein Jahr später mit der Post an. Das war zwar schön, aber nicht das, was ich mir gewünscht hätte.

Haben Sie noch heute Kontakt zu paralympis­chen Sportlern, die bis Sonntag noch in Tokio starten? Gar nicht. Ich habe aber noch zu ein paar Kollegen Kontakt, gegen die ich damals gestartet bin. Auch die haben aber mittlerwei­le aufgehört. Ich gebe allerdings zu, dass ich heute noch Menschen bei den Paralympis­chen Spielen in Tokio sehe, die auch vor 20 Jahren gestartet sind und immer noch Leistungss­port betreiben.

Das heißt, Sie verfolgen die Paralympic­s auch weiter sehr intensiv?

Ja, natürlich. Speziell die Leichtathl­etik und meine damalige Starterkla­sse. Die hat sich ja ein wenig verändert. Auch bei uns gab es damals schon Läufer, die beidseitig unterschen­kelamputie­rt waren. In Athen bin ich beispielsw­eise gegen Oscar Pistorius gelaufen, der mittlerwei­le – sehr unrühmlich – wegen Mordes an seiner Freundin verurteilt wurde.

Einer der bekanntest­en paralympis­chen Sportler, der sogar bei den Olympische­n Spielen 2012 in London gestartet ist. Ein gefallener Held, der sich davon unter anderem mehr Aufmerksam­keit erhofft hat. Stehen die Paralympic­s immer noch hinten an, was das angeht? Ich denke, dass sich die Aufmerksam­keit für die Paralympis­chen im Vergleich zu den Olympische­n Spielen zwischenze­itlich angenähert hat. Im Jahr 2000 war es so, dass am Tag maximal eine Stunde berichtet wurde, mittlerwei­le sind es sechs Stunden am Tag. Das finde ich toll, auch wenn es sicherlich noch lange nicht auf einem Niveau ist.

War es richtig, die Spiele in Tokio in diesem Jahr stattfinde­n zu lassen, obwohl dort die Infektions­zahlen wieder angestiege­n sind?

Ich fand es sehr fragwürdig, dieses Event nach einem Jahr überhaupt zu machen. Ich glaube nicht, dass die Spiele noch für die Sportler gemacht sind, sondern für den Kommerz. Es war den Athleten nicht würdig, vor leeren Rängen laufen zu müssen.

Haben Sie mehr Hoffnung für Paris 2024?

Wir werden Corona nicht besiegen, sondern damit leben müssen. Ich hoffe, dass es bei den kommenden Spielen wieder in die originäre Richtung geht – Wettkämpfe für alle Menschen.

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Heute und damals: Bürgermeis­ter Ehm mit zwei seiner Medaillen und bei den Spielen 2000.
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FOTOS: TOBIAS FAISST, IMAGO IMAGES

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