Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Wir wollen bis heute im Urlaub das Echte erleben“
Alte Kirchen, Tempel und Baudenkmäler stehen auf dem Programm vieler Touristen – Der Historiker Valentin Groebner erklärt, warum wir so sehr auf der Suche nach dem besseren, ursprünglichen Gestern sind
wunderjahre, ins 19. Jahrhundert oder manchmal sogar noch weiter zurückreicht – zu Goethe, zur Grand Tour, der Bildungsreise der frühen Neuzeit. Auch damals hieß es schon: Das muss man gesehen haben, wenn man dort ist.
Was braucht es, damit ein Tourist einen historischen Ort angemessen würdigen kann? Welches Vorwissen ist nötig?
Es gibt viele historische Orte, die nicht besucht werden, weil sie zu abgelegen sind oder zu kompliziert zu erreichen. Die bleiben sozusagen mit ihrer Authentizität allein. Damit
einen Ort als historisch erleben können, braucht es eine ganze Menge moderne Infrastruktur, und die muss jetzt, im 21. Jahrhundert, funktionieren, sonst kommt dort keiner hin. Ich meine damit nicht nur Straßen, Parkplätze und Hinweisschilder, sondern auch ein Narrativ, eine Gebrauchsanweisung für den Ort. Denn die Vergangenheit selbst kann man nicht sehen, die ist weg. Was wir sehen, sind Überreste. Und die müssen eben ausgeschildert und erklärt werden.
Gibt es überhaupt noch authentische Orte auf Reisen?
Natürlich. An Authentizität herrscht kein Mangel, sie steckt bloß woanders, als wir denken. Niemand bezeichnet den Mont Blanc als authentisch, dafür ist der zu groß. Authentisch sind die Bilder davon und das Erlebnis. Das Authentische handelt immer vom Besucher, von der Betrachterin, nicht von der Sache selbst.
Wann begann denn die Inszenierung des Authentischen für Besucher, Reisende und noch später Touristen heutiger Art?
Ich bin Mittelalterhistoriker, das prägt natürlich meinen Blick: Ab dem 13. Jahrhundert wurde mitten in Europa an vielen Stellen zuerst das Grab Jesu nachgebaut und als Angebot für fromme Pilger vermarktet, dann immer größere Schauplätze aus der Bibel – ganz nach dem Motto: Ihr müsst nicht die Reise über das Meer nach Jerusalem machen, ihr könnt das alles auch ganz in der Nähe besuchen. Der Nutzen für euer Seelenheil ist derselbe, es ist alles originalgetreu, und ihr spart Geld und Zeit. Diese „sacri monti“, heiligen Berge, wurden gegen Ende des 15. Jahrhunderts zuerst in Norditalien errichtet und waren damals ein riesiger Erfolg, religiöse Erlebnisparks. Dazu gab es auch passende Unterkünfte. Das Ganze war gewissermaßen die erste Pauschalreise in die Vergangenheit, und immer mit der Garantie: So gut wie das Original, eben authentisch.
Hat sich an diesem Prinzip etwas geändert?
Wir wollen bis heute im Urlaub das Echte erleben, und das soll uns zu entspannteren, gebildeteren, toleranteren Menschen machen. Das Element der Pilgerfahrt – Veränderung durch die Reise an einen bestimmten Ort – ist nie ganz verloren gegangen. Nur wollen wir heute eben auch noch Wellness und WLan dazu.
Das Versprechen von authentischen Orten durchzieht den gesamten Tourismus. Warum?
Weil wir gute theatralische Aufführungen einfach gerne mögen.
Tourismus ist eine Fiktion; eine, von der alle wissen, dass es eine Fiktion ist, die aber echte Strukturen erzeugt: eine milliardenschwere Dienstleistungsbranche. Es brauchte ja erst einmal die Industrialisierung und die Eisenbahn, damit die Menschen in eine angeblich ursprüngliche Natur zurückwollten. So begann der Tourismus: mit den Grandhotels in den Alpen und am Meer. Kein Mensch wollte zur Erholung auf eine Alm oder an einen Strand, bevor wir in Fabriken und Büros gearbeitet haben.
Geht es um die Suche nach einem bestimmten Gefühl?
Das Blöde an Gefühlen ist, dass sie schnell wieder weg sind. Das heißt, diese Gefühle müssen fixiert werden. Am besten geht das, wenn wir die Gefühle schon von anderen kennen und reproduzieren können. Deswegen findet Urlaub meistens in Wiederholungsschleifen statt. Man kann das an der schönen Stadt Luzern zeigen, in der ich wohne: Hier besichtigen die Menschen genau dasselbe wie bei der Erfindung des Tourismus vor 170 Jahren. Luzern hat sich sehr verändert, aber die Attraktionen – der Blick auf die Alpen über den See, das Löwendenkmal, die Altstadt – sind exakt dieselben. Das sind sozusagen vorgefertigte Erlebnisse: Die Touristen kommen, schauen sich das an, machen Fotos und fahren wieder.
Warum haben schon die Reisenden vor 100 Jahren geglaubt, dass die Welt eigentlich früher viel schöner war?
Weil es das Erlebnis verstärkt. Wenn ich glaube, dass ich (fast) der Letzte bin, der etwas sieht, dann ist der Eindruck auf mich besonders stark. Der Untergang von Venedig zum Beispiel wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angekündigt, als John Ruskin sein großes Buch „The Stones of Venice“herausbrachte. Bei Ruskin war es noch die drohende Besetzung durch die habsburgische Armee, die Venedig untergehen lassen würde. Heute sind es der Klimawandel, die Kreuzfahrtschiffe und die Touristenströme. „Besichtigen Sie Venedig, solange es noch da ist“: Dieser Slogan ist tatsächlich sehr alt. Er funktioniert aber nach wie vor. Mich als Historiker macht das auf ironische Weise durchaus optimistisch.
Passt dazu der häufig vermittelte Eindruck, dass auch im eigenen Leben früher das meiste besser war?
Was ist denn Urlaub anderes als ein Versprechen auf wiedergegebene Zeit? Ich bekomme etwas wieder, was mir abhandengekommen ist, nicht nur angeblich ursprüngliche Alpen und unberührte Strände, sondern meine eigene Lebenszeit, die ich mit Unlust im Büro verbracht habe. Urlaub ist Reparatur. Vor dem Ersten Weltkrieg war das ein Privileg der reichen Leute – nur die konnten sich das leisten. Dann machten erst die italienischen und dann die deutschen Faschisten Ferien für alle zum politischen Slogan. Seitdem ist der Urlaub eine Art nationales Vorrecht. Nur ist die Vorstellung, dass Urlaub einem etwas zurückbringt, das man früher gehabt hat, ein Wunschbild.
Warum suchen wir das Authentische in der Regel in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart?
Weil wir Kulturpessimisten sind – das schöne Echte ist im Zweifelsfall eben das von früher, das immer weniger wird. Das ist aber ein Klischee, und die Wirklichkeit ist komplizierter. Schon im 19. Jahrhundert besichtigten Touristen auch moderne Gebäude, wenn die nur außergewöhnlich genug waren. Und heute lässt sich ein Ort durch einen spektakulären Neubau sehr wohl zum Touristenziel machen.
Sollte man nicht planen, sondern reisen wie Backpacker, die sich nur ein Flugticket kaufen und sonst nichts planen?
Tun die das wirklich – ohne Reiseführer? Um so unterwegs zu sein, braucht man ziemlich viel Geld und vor allem sehr viel Zeit, und Reisen an Orte ganz ohne Touristen können sehr ungemütlich sein. Deswegen machen das auch nur vergleichsweise wenige Menschen.