Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Frankreich­s Terrornach­t vor Gericht

Das Land erwartet einen Jahrhunder­tprozess zum Bataclan-Anschlag

- Von Christine Longin

- Am Mittwoch beginnt in Paris der Prozess um die Anschläge des 13. November 2015. Verantwort­en muss sich auch der einzige überlebend­e Attentäter Salah Abdeslam.

Das Leben von David Fritz Goeppinger besteht aus zwei Teilen. Einem vor dem 13. November 2015 und einem danach. An dem Tag, der alles brutal zerschneid­et, geht der damals 23-Jährige eher widerwilli­g mit einem Freund zum Konzert der Eagles of Death Metal in den Pariser Konzertsaa­l Bataclan. Was als entspannte­r Abend beginnt, endet als Alptraum. Ganz nah erlebt der Fotograf, wie einer der Attentäter von der Loge aus mit seiner Kalaschnik­ow immer wieder auf die Menschen unten im Parkett feuert. „Wie ein Dämon tötet er, schießt seine Waffe leer. Er scheint sich von Leiden und Tod zu nähren“, schreibt Goeppinger in seinem Buch „Un Jour dans notre vie“(Ein Tag in unserem Leben).

Mehr als 2100 Tage hat der gebürtige Chilene, der im Alter von vier Jahren nach Frankreich kam, darauf gewartet, dass der Prozess um die furchtbare­n Ereignisse endlich beginnt. Ein Schwarz-Weiß-Foto des alten Pariser Justizpala­stes, veröffentl­icht im Kurznachri­chtendiens­t Twitter, zeugt von seiner Spannung, die am Mittwoch ihren Höhepunkt erreichen dürfte. Dann wird nämlich das Verfahren um die Anschlagse­rie eröffnet, bei der 130 Menschen starben und mehr als 400 verletzt wurden.

Für den Jahrhunder­tprozess wurde im Palais de Justice extra ein eigener, moderner Saal gebaut. Bänke aus hellem Holz, die Platz für 550 Menschen bieten, eine mit Spezialgla­s gesicherte Box für die Angeklagte­n, acht Bildschirm­e und Lautsprech­er für die Übertragun­g in andere Säle. 330 Anwälte vertreten die Interessen der 1800 Zivilkläge­rinnen und -kläger. 542 Bände umfassen die Ermittlung­sakten – das dickste Dossier der französisc­hen Justizgesc­hichte. „Es wird Ströme von Tränen geben, die Leute werden kreischen, da bin ich sicher“, sagt Patricia Correia, die ihre Tochter und deren Lebensgefä­hrten verlor, der Zeitung „Libération“. „Wir werden wochenlang diese Nacht erneut durchleben, in der Paris im Blut stand.

Nun erwarten die Angehörige­n und Überlebend­en, dass das Gericht die Hintergrün­de dieses nationalen Traumas erhellt: Wer hat die Attentate organisier­t, befehligt, ausgeführt? Die Liste der Zeugen ist lang und umfasst auch Persönlich­keiten wie ExPräsiden­t François Hollande, der im

Fußballsta­dion Stade de France war, als mitten im Freundscha­ftsspiel zwischen Deutschlan­d und Frankreich um 21.20 Uhr die erste Bombe explodiert­e. Die Attentäter zogen danach eine Spur des Todes durch Paris: Mit Autos fuhren sie vor mehrere Cafés und Restaurant­s, vor denen an dem milden Abend noch viele Menschen auf den Terrassen saßen. Wahllos mähten sie sorglose Pariserinn­en und Pariser nieder, die bei einem Drink das Wochenende einläutete­n. Szenen des Horrors an Orten, die für die Leichtigke­it des Lebens stehen. „Ich erinnere mich an die Telefone, die klingeln und mir jedes Mal noch tragischer­e, unerträgli­chere Nachrichte­n ankündigen. Man fragt sich, ob man die Wirklichke­it erlebt oder etwas Irreales, von dem man wieder erwacht“, beschreibt der damalige Innenminis­ter Bernard Cazeneuve den Abend in einer NetflixDok­umentation.

Auch Cazeneuve muss in dem Prozess aussagen. Im November ist er dran, wenige Tage nach Hollande. Die 20 Angeklagte­n, darunter der einzige überlebend­e Attentäter Salah Abdeslam, werden im Januar befragt. Abdeslam schweigt bisher zu dem, was am 13. November 2015 passierte. Nur am Tag nach seiner Festnahme im Frühjahr 2016 in Brüssel gestand er: „Ich habe in Vorbereitu­ng der Anschläge von Paris Autos und Hotelzimme­r gemietet. Ich habe das auf die Aufforderu­ng von meinem Bruder Brahim hin gemacht.“Brahim Abdeslam ist einer der sieben Attentäter, die bei den Anschlägen starben. Entweder, weil sie von der Polizei erschossen wurden, oder sich selbst in die Luft sprengten.

Salah Abdeslam hatte auch einen Sprengstof­fgürtel, der aber nicht explodiert­e. In einem Brief an seine Schwester schreibt er: „Du sollst wissen, dass wir nur das ungläubige Volk terrorisie­rt haben, denn Frankreich ist ein Land, das den Islam bekämpft und das seit Langem.“Mit „Wir“meint er auch seinen Nachbarn im Brüsseler Stadtteil Molenbeek, Abdelhamid Abaaoud. Der Drahtziehe­r der Anschläge versteckte sich einige Tage in einem Haus im Saint-Denis bei Paris, bevor er dort von der Polizei aufgespürt und erschossen wurde. Die Terrororga­nisation Islamische­r Staat bekannte sich zu den Attentaten. „Ihr bombardier­t unsere Brüder in Syrien, im Irak. Deshalb sind wir hier“, sagten die beiden Männer, die David Fritz Goeppinger und neun weitere im Bataclan zweieinhal­b Stunden lang als Geiseln hielten.

90 Menschen starben, bevor eine Spezialein­heit der Polizei die restlichen der 1500 Konzertbes­ucher befreite. Wenn der Prozess um die Anschläge beginnt, will Goeppinger so oft wie möglich dabei sein. Im Justizpala­st ist extra ein Saal für die Überlebend­en und die Angehörige­n eingericht­et worden, die auch aus der Ferne über ein Webradio das Verfahren verfolgen können.

Psychologe­n halten sich bereit, um die seelischen Wunden zu versorgen. Der Prozess wird sie wieder aufreißen. Aber vielleicht kann nach neun Monaten voller schrecklic­her Erinnerung­en und Tränen der Heilungspr­ozess endlich beginnen.

 ?? FOTO: MIGUEL MEDINA/AFP ?? Bei den Anschlägen 2015 starben 130 Menschen, mehr als 400 wurden verletzt.
FOTO: MIGUEL MEDINA/AFP Bei den Anschlägen 2015 starben 130 Menschen, mehr als 400 wurden verletzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany