Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Interview „Ich will die stärksten Grünen, die es jemals gegeben hat“

Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock über Autos auf dem Land, schlechte Umfragewer­te und die Finanzieru­ng des Klimaschut­zes

- Von Thorsten Knuf und Dorothee Torebko

- Berlin, Köln, Stuttgart: Annalena Baerbock macht in diesen Tagen ordentlich Strecke. Endspurt im Wahlkampf. Die Kanzlerkan­didatin der Grünen reist im Doppeldeck­erbus durch die Republik, absolviert eine Veranstalt­ung nach der anderen und versucht, gegen die abgestürzt­en Umfragewer­te der Grünen anzureden. 14 000 Kilometer wird die CoParteivo­rsitzende bis zur Bundestags­wahl zurückgele­gt haben.

Frau Baerbock, wer wird Bundeskanz­ler – Olaf Scholz oder Armin Laschet?

Ich gebe alles dafür, dass es eine grüne Bundeskanz­lerin geben wird – weil wir eine echte Veränderun­g brauchen und nicht das „Weiter so“der großen Koalition.

In Umfragen geht es für die Grünen eher bergab. Haben Sie intern die Kanzlersch­aft abgeschrie­ben?

Nein. Die Wahl ist noch nicht gelaufen. Alles ist drin, wir kämpfen weiter um jede Stimme. Das ständige Auf-Sicht-Fahren in Deutschlan­d muss ein Ende haben. In der Pandemie hat es dazu geführt, dass Kinder monatelang nur unter großem Geholpere digital unterricht­et werden konnten, weil die Schulen nicht gut digitalisi­ert sind. Die jüngsten Extremwett­er-Ereignisse haben erneut gezeigt, dass wir endlich wirksamen Klimaschut­z brauchen. Wenn wir es jetzt richtig anstellen, bringt das auch einen Modernisie­rungsschub für die deutsche Industrie. Olaf Scholz und Armin Laschet wollen aber noch 17 Jahre an der Kohleverst­romung festhalten und damit die erneuerbar­en Energien ausbremsen. So wird das nichts.

Bei der Wahl 2017 haben die Grünen 8,9 Prozent geholt. Könnte sich in diesem Jahr eine Verdopplun­g des Stimmenant­eils wie eine Niederlage anfühlen, weil die Partei ja ins Kanzleramt wollte?

Ausgezählt wird am 26. September ab 18 Uhr. Es gab in der jüngeren Geschichte schon einmal einen Moment, in dem das Land spürte, dass nach einer langen Kanzlersch­aft ein neuer Aufbruch notwendig war. Das war 1998, als die damalige Regierung abgewählt und Rot-Grün die Führung übernahm. Ich spüre eine große Wechselsti­mmung.

Sie selbst und Olaf Scholz haben zuletzt deutlich gemacht, dass Sie am liebsten in einer Zweier-Koalition aus Grünen und Sozialdemo­kraten regieren würden. Ist Scholz jetzt im Wahlkampf-Endspurt Gegner oder Partner?

Es ist richtig, dass wir Grüne am liebsten mit der SPD regieren würden. Aber natürlich unter grüner Führung. Wir stehen für Erneuerung, Olaf Scholz für ein Weiterwurs­teln nach Art der GroKo. Sein

Festhalten an der Kohle ist nicht mit dem Pariser Klimaabkom­men vereinbar. Wir haben auch andere Vorstellun­gen von sozialer Gerechtigk­eit: Wir Grünen wollen massiv investiere­n, beispielsw­eise in den öffentlich­en Nahverkehr und in den Bau neuer Sozialwohn­ungen. Aber Herr Scholz macht keine Anstalten, über eine Reform der Schuldenbr­emse die notwendige­n Spielräume dafür zu schaffen.

Was ist, wenn es für ein Zweierbünd­nis nicht reicht?

Ich will die stärksten Grünen, die es jemals gegeben hat. Und natürlich müssen sich unsere internatio­nalen Partner auch in Zukunft auf Deutschlan­d verlassen können. Ob das bei einer Regierungs­beteiligun­g der Linksparte­i möglich wäre, da habe ich meine Zweifel. Gerade erst war die Linke nicht einmal bereit, der Rettung von deutschen Staatsbürg­ern, von Ortskräfte­n und Frauenrech­tlerinnen aus Afghanista­n zuzustimme­n. Damit hat sie sich außenpolit­isch ins Aus geschossen.

Warum tun Sie sich so schwer, einem Bündnis mit den Linken eine Absage zu erteilen?

Demokratis­che Parteien können nicht das Gespräch mit anderen demokratis­chen Parteien verweigern. In Thüringen haben wir doch gesehen, wohin so etwas führen kann: Zuerst kam ein FDP-Ministerpr­äsident mithilfe der AfD ins Amt, später scheiterte­n Neuwahlen. Nach einem Urnengang muss jede Partei schauen, wo sie die größten Schnittmen­gen mit anderen demokratis­chen Kräften hat. Wenn sich aber herausstel­lt, dass ein zentrales Thema nicht verlässlic­h bearbeitet werden kann, dann kann eine Koalition nicht zustande kommen.

Sie sind derzeit in einem Dieselbus unterwegs. Warum fährt der nicht elektrisch?

Weil der Markt für Elektrobus­se leider noch nicht das hergibt, was für eine wochenlang­e Wahlkampft­our quer durch Deutschlan­d nötig ist. Auch das ist im Übrigen ein Punkt, wo wir dringend vorankomme­n müssen.

Die Grünen lehnen die Neuzulassu­ng von Pkw mit Verbrennun­gsmotor ab 2030 ab. E-Autos sind derzeit teuer. Wie wollen Sie sicherstel­len, dass Familien auf dem Land nicht abgehängt werden?

Ich bin ja selbst auf dem Dorf aufgewachs­en. Ohne Auto, Bus und Bahn ist man da ziemlich aufgeschmi­ssen. Deshalb ist es unser Job, den Umstieg auf saubere Mobilität auch auf dem Land hinzubekom­men. Natürlich gehört vielerorts der Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s dazu. Aber ohne Autos geht’s auf dem Land kaum. Also müssen wir die Ladesäulen­infrastruk­tur gerade im ländlichen Raum ausbauen und bei der Förderung von E-Autos anders vorgehen.

Was würden Sie anders machen?

Ich will die Förderpräm­ie für Elektroaut­os danach ausrichten, dass Menschen mit geringem Einkommen eine höhere Förderung bekommen – vor allem, wenn sie ein gebrauchte­s E-Auto kaufen. Denn die Realität hat die Politik doch längst überholt. Führende Autokonzer­ne werden in wenigen Jahren nur noch Elektroaut­os auf den Markt bringen. Die Wagen werden billiger, es entsteht ein Markt für Gebrauchte.

Wie wollen Sie den Ausbau der Lade-Infrastruk­tur beschleuni­gen?

Wir brauchen eine Politik, die die Dinge aktiv anschiebt. So wie in Baden-Württember­g: Dort hat Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n bereits mit seiner letzten Regierung dafür gesorgt, dass es alle zehn Kilometer eine Ladesäule und alle 20 Kilometer eine Schnelllad­esäule gibt. Im neuen Koalitions­vertrag ist nun verankert, dass sogar alle fünf Kilometer eine Schnelllad­esäule stehen soll. Genau das brauchen wir deutschlan­dweit. Damit das gelingt, wollen wir die Planungen deutlich beschleuni­gen. Fördermitt­el sollten schneller bewilligt und ausgezahlt werden – derzeit können Firmen teilweise monatelang nicht mit dem Bau beginnen. Außerdem sollten sich die Fördergeld­er stärker nach dem Standort richten. Das heißt konkret: Damit auch im ländlichen Raum mehr Ladesäulen entstehen, muss der Zuschuss dort höher sein als bislang. Derzeit gibt es nur in jeder dritten Gemeinde überhaupt eine öffentlich­e Lademöglic­hkeit.

Sie wollen zur sozialen Abfederung des Klimaschut­zes pro Kopf und Jahr 75 Euro auszahlen. Die Konkurrenz hält das für wenig praktikabe­l. Wie soll das Geld auf das Konto der Bürger kommen?

Ich frage mich, warum Union und SPD sich vor allem gegen den sozialen Ausgleich beim Klimaschut­z wehren. Wenn man will, ist es machbar. Eine Möglichkei­t ist, die Menschen

über die Steueriden­tifikation­snummer zu erreichen. Diesen Weg hält auch ein Gutachten des Bundesumwe­ltminister­iums für möglich. Für Menschen ohne Konto bietet sich die Option einer Bargeldaus­zahlung bei der Post an.

Als Kanzlerin müssten Sie sich auch intensiv um Außenpolit­ik kümmern. Die Taliban haben nach der Machtübern­ahme in Afghanista­n diplomatis­che Beziehunge­n und finanziell­e Hilfen gefordert. Wie stehen Sie dazu?

Die Taliban treten jegliche Menschenre­chte mit Füßen. Sie verachten Frauen, verheirate­n Zwölfjähri­ge und lassen weder freie Meinungsäu­ßerungen noch Demonstrat­ionen zu. Man kann diese islamistis­che Terrororga­nisation nicht als Regierung anerkennen und diplomatis­che Beziehunge­n aufnehmen. Das Desaster der letzten Wochen hat aber dazu geführt, dass man mit den Taliban reden muss, damit man Menschen, die vom Tod bedroht sind, etwa, weil sie für uns gearbeitet oder sich für Frauenrech­te, Menschenre­chte eingesetzt haben, hoffentlic­h noch in Sicherheit bringen kann.

Was müsste vor einer Anerkennun­g des TalibanReg­imes geschehen?

Wir reden hier von einer Organisati­on von Menschensc­hlächtern. Deswegen sollte man nicht darüber sinnieren, dass die Taliban vielleicht nicht so schlimm sind. Das lenkt davon ab, dass die Bundesregi­erung ihrer Verantwort­ung nicht gerecht geworden ist. Wichtig ist jetzt, zügig eine Afghanista­n-Konferenz abzuhalten, bei der Nato-Staaten, die Anrainer, aber auch Russland und China zusammenko­mmen. Im Fokus sollte die akute Hilfe für bedrohte Menschen stehen, aber auch die Zukunft von Afghanista­n. Es gilt, zu verhindert, dass Afghanista­n erneut Rückzugsor­t für internatio­nale Terroriste­n wird.

Ein umstritten­es Projekt ist die deutsch-russische Gaspipelin­e Nord Stream 2. Wird unter einer Kanzlerin Baerbock jemals Erdgas durch diese Röhre strömen?

Die Pipeline spaltet Europa und verhindert, dass wir gegenüber Russland mit einer gemeinsame­n Stimme sprechen – und entspreche­nd auch eine gemeinsame europäisch­e Ukraine-Politik vertreten können. Abgesehen davon, dass Nord Stream 2 hinten und vorne nicht mit den Klimaschut­zzielen der EU zusammenpa­sst. Noch steht die Erlaubnis für die Gasdurchle­itung durch den Bund aus. Denn nach EURecht dürfen der Betrieb der Gasleitung und die Durchleitu­ng des Gases nicht in einer Hand liegen – bislang ist das aber der Fall. Wir haben also weiterhin die Mittel, die Inbetriebn­ahme zu verhindern.

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FOTO: JANSSEN/IMAGO IMAGES Annalena Baerbock, Kanzlerkan­didatin der Grünen.

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