Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Interview „Ich will die stärksten Grünen, die es jemals gegeben hat“
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock über Autos auf dem Land, schlechte Umfragewerte und die Finanzierung des Klimaschutzes
- Berlin, Köln, Stuttgart: Annalena Baerbock macht in diesen Tagen ordentlich Strecke. Endspurt im Wahlkampf. Die Kanzlerkandidatin der Grünen reist im Doppeldeckerbus durch die Republik, absolviert eine Veranstaltung nach der anderen und versucht, gegen die abgestürzten Umfragewerte der Grünen anzureden. 14 000 Kilometer wird die CoParteivorsitzende bis zur Bundestagswahl zurückgelegt haben.
Frau Baerbock, wer wird Bundeskanzler – Olaf Scholz oder Armin Laschet?
Ich gebe alles dafür, dass es eine grüne Bundeskanzlerin geben wird – weil wir eine echte Veränderung brauchen und nicht das „Weiter so“der großen Koalition.
In Umfragen geht es für die Grünen eher bergab. Haben Sie intern die Kanzlerschaft abgeschrieben?
Nein. Die Wahl ist noch nicht gelaufen. Alles ist drin, wir kämpfen weiter um jede Stimme. Das ständige Auf-Sicht-Fahren in Deutschland muss ein Ende haben. In der Pandemie hat es dazu geführt, dass Kinder monatelang nur unter großem Geholpere digital unterrichtet werden konnten, weil die Schulen nicht gut digitalisiert sind. Die jüngsten Extremwetter-Ereignisse haben erneut gezeigt, dass wir endlich wirksamen Klimaschutz brauchen. Wenn wir es jetzt richtig anstellen, bringt das auch einen Modernisierungsschub für die deutsche Industrie. Olaf Scholz und Armin Laschet wollen aber noch 17 Jahre an der Kohleverstromung festhalten und damit die erneuerbaren Energien ausbremsen. So wird das nichts.
Bei der Wahl 2017 haben die Grünen 8,9 Prozent geholt. Könnte sich in diesem Jahr eine Verdopplung des Stimmenanteils wie eine Niederlage anfühlen, weil die Partei ja ins Kanzleramt wollte?
Ausgezählt wird am 26. September ab 18 Uhr. Es gab in der jüngeren Geschichte schon einmal einen Moment, in dem das Land spürte, dass nach einer langen Kanzlerschaft ein neuer Aufbruch notwendig war. Das war 1998, als die damalige Regierung abgewählt und Rot-Grün die Führung übernahm. Ich spüre eine große Wechselstimmung.
Sie selbst und Olaf Scholz haben zuletzt deutlich gemacht, dass Sie am liebsten in einer Zweier-Koalition aus Grünen und Sozialdemokraten regieren würden. Ist Scholz jetzt im Wahlkampf-Endspurt Gegner oder Partner?
Es ist richtig, dass wir Grüne am liebsten mit der SPD regieren würden. Aber natürlich unter grüner Führung. Wir stehen für Erneuerung, Olaf Scholz für ein Weiterwursteln nach Art der GroKo. Sein
Festhalten an der Kohle ist nicht mit dem Pariser Klimaabkommen vereinbar. Wir haben auch andere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit: Wir Grünen wollen massiv investieren, beispielsweise in den öffentlichen Nahverkehr und in den Bau neuer Sozialwohnungen. Aber Herr Scholz macht keine Anstalten, über eine Reform der Schuldenbremse die notwendigen Spielräume dafür zu schaffen.
Was ist, wenn es für ein Zweierbündnis nicht reicht?
Ich will die stärksten Grünen, die es jemals gegeben hat. Und natürlich müssen sich unsere internationalen Partner auch in Zukunft auf Deutschland verlassen können. Ob das bei einer Regierungsbeteiligung der Linkspartei möglich wäre, da habe ich meine Zweifel. Gerade erst war die Linke nicht einmal bereit, der Rettung von deutschen Staatsbürgern, von Ortskräften und Frauenrechtlerinnen aus Afghanistan zuzustimmen. Damit hat sie sich außenpolitisch ins Aus geschossen.
Warum tun Sie sich so schwer, einem Bündnis mit den Linken eine Absage zu erteilen?
Demokratische Parteien können nicht das Gespräch mit anderen demokratischen Parteien verweigern. In Thüringen haben wir doch gesehen, wohin so etwas führen kann: Zuerst kam ein FDP-Ministerpräsident mithilfe der AfD ins Amt, später scheiterten Neuwahlen. Nach einem Urnengang muss jede Partei schauen, wo sie die größten Schnittmengen mit anderen demokratischen Kräften hat. Wenn sich aber herausstellt, dass ein zentrales Thema nicht verlässlich bearbeitet werden kann, dann kann eine Koalition nicht zustande kommen.
Sie sind derzeit in einem Dieselbus unterwegs. Warum fährt der nicht elektrisch?
Weil der Markt für Elektrobusse leider noch nicht das hergibt, was für eine wochenlange Wahlkampftour quer durch Deutschland nötig ist. Auch das ist im Übrigen ein Punkt, wo wir dringend vorankommen müssen.
Die Grünen lehnen die Neuzulassung von Pkw mit Verbrennungsmotor ab 2030 ab. E-Autos sind derzeit teuer. Wie wollen Sie sicherstellen, dass Familien auf dem Land nicht abgehängt werden?
Ich bin ja selbst auf dem Dorf aufgewachsen. Ohne Auto, Bus und Bahn ist man da ziemlich aufgeschmissen. Deshalb ist es unser Job, den Umstieg auf saubere Mobilität auch auf dem Land hinzubekommen. Natürlich gehört vielerorts der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs dazu. Aber ohne Autos geht’s auf dem Land kaum. Also müssen wir die Ladesäuleninfrastruktur gerade im ländlichen Raum ausbauen und bei der Förderung von E-Autos anders vorgehen.
Was würden Sie anders machen?
Ich will die Förderprämie für Elektroautos danach ausrichten, dass Menschen mit geringem Einkommen eine höhere Förderung bekommen – vor allem, wenn sie ein gebrauchtes E-Auto kaufen. Denn die Realität hat die Politik doch längst überholt. Führende Autokonzerne werden in wenigen Jahren nur noch Elektroautos auf den Markt bringen. Die Wagen werden billiger, es entsteht ein Markt für Gebrauchte.
Wie wollen Sie den Ausbau der Lade-Infrastruktur beschleunigen?
Wir brauchen eine Politik, die die Dinge aktiv anschiebt. So wie in Baden-Württemberg: Dort hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann bereits mit seiner letzten Regierung dafür gesorgt, dass es alle zehn Kilometer eine Ladesäule und alle 20 Kilometer eine Schnellladesäule gibt. Im neuen Koalitionsvertrag ist nun verankert, dass sogar alle fünf Kilometer eine Schnellladesäule stehen soll. Genau das brauchen wir deutschlandweit. Damit das gelingt, wollen wir die Planungen deutlich beschleunigen. Fördermittel sollten schneller bewilligt und ausgezahlt werden – derzeit können Firmen teilweise monatelang nicht mit dem Bau beginnen. Außerdem sollten sich die Fördergelder stärker nach dem Standort richten. Das heißt konkret: Damit auch im ländlichen Raum mehr Ladesäulen entstehen, muss der Zuschuss dort höher sein als bislang. Derzeit gibt es nur in jeder dritten Gemeinde überhaupt eine öffentliche Lademöglichkeit.
Sie wollen zur sozialen Abfederung des Klimaschutzes pro Kopf und Jahr 75 Euro auszahlen. Die Konkurrenz hält das für wenig praktikabel. Wie soll das Geld auf das Konto der Bürger kommen?
Ich frage mich, warum Union und SPD sich vor allem gegen den sozialen Ausgleich beim Klimaschutz wehren. Wenn man will, ist es machbar. Eine Möglichkeit ist, die Menschen
über die Steueridentifikationsnummer zu erreichen. Diesen Weg hält auch ein Gutachten des Bundesumweltministeriums für möglich. Für Menschen ohne Konto bietet sich die Option einer Bargeldauszahlung bei der Post an.
Als Kanzlerin müssten Sie sich auch intensiv um Außenpolitik kümmern. Die Taliban haben nach der Machtübernahme in Afghanistan diplomatische Beziehungen und finanzielle Hilfen gefordert. Wie stehen Sie dazu?
Die Taliban treten jegliche Menschenrechte mit Füßen. Sie verachten Frauen, verheiraten Zwölfjährige und lassen weder freie Meinungsäußerungen noch Demonstrationen zu. Man kann diese islamistische Terrororganisation nicht als Regierung anerkennen und diplomatische Beziehungen aufnehmen. Das Desaster der letzten Wochen hat aber dazu geführt, dass man mit den Taliban reden muss, damit man Menschen, die vom Tod bedroht sind, etwa, weil sie für uns gearbeitet oder sich für Frauenrechte, Menschenrechte eingesetzt haben, hoffentlich noch in Sicherheit bringen kann.
Was müsste vor einer Anerkennung des TalibanRegimes geschehen?
Wir reden hier von einer Organisation von Menschenschlächtern. Deswegen sollte man nicht darüber sinnieren, dass die Taliban vielleicht nicht so schlimm sind. Das lenkt davon ab, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist. Wichtig ist jetzt, zügig eine Afghanistan-Konferenz abzuhalten, bei der Nato-Staaten, die Anrainer, aber auch Russland und China zusammenkommen. Im Fokus sollte die akute Hilfe für bedrohte Menschen stehen, aber auch die Zukunft von Afghanistan. Es gilt, zu verhindert, dass Afghanistan erneut Rückzugsort für internationale Terroristen wird.
Ein umstrittenes Projekt ist die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2. Wird unter einer Kanzlerin Baerbock jemals Erdgas durch diese Röhre strömen?
Die Pipeline spaltet Europa und verhindert, dass wir gegenüber Russland mit einer gemeinsamen Stimme sprechen – und entsprechend auch eine gemeinsame europäische Ukraine-Politik vertreten können. Abgesehen davon, dass Nord Stream 2 hinten und vorne nicht mit den Klimaschutzzielen der EU zusammenpasst. Noch steht die Erlaubnis für die Gasdurchleitung durch den Bund aus. Denn nach EURecht dürfen der Betrieb der Gasleitung und die Durchleitung des Gases nicht in einer Hand liegen – bislang ist das aber der Fall. Wir haben also weiterhin die Mittel, die Inbetriebnahme zu verhindern.