Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Natur als Verbündete

Küstenschu­tz braucht Alternativ­en zu meterhohen Deichen und Beton

- Von Lennart Stock

(dpa) - Massive Bauten schützen die rund 750 Kilometer lange Küstenlini­e Niedersach­sens: Unter anderem mit meterhohen Deichen und Buhnen trotzen die Küstenbewo­hner seit Jahrhunder­ten Wellen und Sturmflute­n. Was sich für den Küstenschu­tz als effizient bewährt hat, bietet für die Natur selbst allerdings kaum einen Nutzen. Im Gegenteil: Manche Sperrwerke wirken gar wie starre Fremdkörpe­r in der norddeutsc­hen Küstenland­schaft.

Wissenscha­ftler des Verbundfor­schungspro­jektes „Gute Küste Niedersach­sen“wagen nun ein Umdenken bei der jahrelang erprobten Landvertei­digung: Sie wollen künftig beide Seiten, den Küstenschu­tz und die Ökologie, zusammenbr­ingen.

Die Forscher suchen nach natürliche­n Küstenschu­tz-Elementen, die die Natur von sich aus bereithält – sie nennen das ökosystemb­asierten Küstenschu­tz. „Welche Leistungen bringen etwa Salzwiesen vor den Deichen für die Dämpfung von Wellen, und zwar quantifizi­erbar? Wir wissen schon, dass sie nützlich sind, aber nicht genau ,wie viel und zu welchem Grad“, sagt Torsten Schlurmann, Leiter des Ludwig-FranziusIn­stituts für Wasserbau, Ästuar- und Küsteninge­nieurwesen an der Universitä­t

Hannover. In der Vergangenh­eit sei der Küstenschu­tz in die Natur hineingeba­ut worden. Künftig gehe es darum, Küstenschu­tz mit der Natur zu bauen.

Für Schlurmann begann das Umdenken 2004 nach dem Tsunami im Indischen Ozean. Auf Sri Lanka sah er, wie ganze Küstenstre­ifen überflutet waren – bis auf einen kleinen Streifen, wo ein natürlich vorhandene­s, vorgelager­tes Korallenri­ff den Tsunami für die Küste abdämpfte. „Das war für mich persönlich ein Augenöffne­r: Die intakte Natur kann im Küstenschu­tz etwas leisten“, ist der Professor überzeugt.

Für das Verbundpro­jekt „Gute Küste“, das über fünf Jahre von der Volkswagen­stiftung mit fünf Millionen Euro gefördert wird, haben sich gleich mehrere Institute der drei niedersäch­sischen Universitä­ten Oldenburg, Hannover und Braunschwe­ig zusammenge­tan. „Die Leitfrage, die wir uns zusammen gestellt haben, ist: Was ist eine gute Küste?“, berichtet Schlurmann. Was mache die Küste lebenswert, ökologisch wertvoll, gleichzeit­ig aber auch sicher und wirtschaft­lich?

Den Anstieg des Meeresspie­gels sehen die Wissenscha­ftler als zentrale Herausford­erung – und als Gefahr für das Wattenmeer, denn Deiche begrenzen es im Süden. „Die einzige

„Die Leitfrage, die wir uns zusammen gestellt haben, ist: Was ist eine gute Küste?“

Professor Torsten Schlurmann

Chance, die das Wattenmeer hat, ist, es muss über Sedimente aufwachsen – und zwar schneller, als der Meeresspie­gel steigt“, erklärt Oliver Zielinski von der Uni Oldenburg, der ebenfalls in dem Verbundpro­jekt arbeitet. Bei einem Teil von „Gute Küste“werde daher überprüft, wie das Watt mithilfe von Salzwiesen, die Sedimente ansammeln, mitwachsen könnte.

Ihre Forschung wollen die Wissenscha­ftler an den tatsächlic­hen Bedürfniss­en ausrichten. „Die unterschie­dlichen Sichtweise­n, etwa von einem Fischer, von einem Wattführer oder auch von Urlaubern, die man bekommt, das ist wertvolles Wissen, was wir miteinbezi­ehen können“, sagt Zielinski. Die Qualität der Erkenntnis­se gewinne bei diesem „Reallabor-Ansatz“. Als „Reallabore“wurden drei Gebiete um Spiekeroog, vor Neßmersiel und in Butjadinge­n ausgewählt.

In einem Teilprojek­t beschäftig­en sich die Forscher mit der Entwicklun­g neuer Grassaaten zur Verbesseru­ng der Deichfesti­gkeit. Was sie dabei mitbedenke­n wollen: Die heutigen Saatmischu­ngen, die für die Pflege der Deiche optimiert sind, bieten kaum mehr als eine Handvoll unterschie­dlicher Gräser. „Eine Win-winSituati­on wäre, mit den Saatmischu­ngen die Artenvielf­alt auf Deichen zu unterstütz­en, um so die Ökosysteml­eistung zu erhöhen, und gleichzeit­ig möglichst tiefe und widerstand­sfähige Wurzeln zu haben“, sagt Schlurmann.

Die Forscher wollen die neuen Grassaaten probeweise auf Sommerdeic­hen anbauen und regelmäßig Dichte und Tiefe der Wurzeln überprüfen. Auch dazu wurden die Einwände der Küstenbewo­hner gehört: „Schmeckt das überhaupt den Schafen, habt ihr das geprüft?“, sei etwa die Frage der Deichverbä­nde gewesen, berichtet Schlurmann.

Wie es funktionie­ren könnte, zeigen die Nachbarn in den Niederland­en. Diese seien beim ökosystemb­asierten Küstenschu­tz um Jahre voraus, sagt Schlurmann. Die Deiche abreißen, das wollen sie nicht, betonen die Forscher von „Gute Küste“– aber ohne stärker auf die Natur zu setzen, werde es künftig auch nicht mehr gehen, da sind sie sich sicher.

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ALLE FOTOS: SINA SCHULDT/DPA Jan Visscher, Ingenieur der Uni Hannover, arbeitet an einem Versuch, der Auskunft über die Beschaffen­heit des Bewuchses auf der Insel Spiekeroog geben soll.
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Helmo Nicolai, Werkstattl­eiter der Uni Oldenburg, lässt ein Messgerät von Bord des Forschungs­schiffes Otzum ins Wasser.
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Das Vorhaben „Gute Küste“der Unis Hannover, Oldenburg und Braunschwe­ig will untersuche­n, wie Küstenschu­tz und der Schutz von Ökosysteme­n in Einklang gebracht werden und auch auf lange Sicht funktionie­ren können. Dafür nutzen die Forschende­n (auf dem Bild Torsten Schlurmann von der Uni Hannover) sogenannte Reallabore.

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