Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
SZ-Redakteure erinnern sich
Der 11. September 2001 und seine Folgen waren prägend – Nun jährt sich der Tag zum 20. Mal
Als vor 20 Jahren zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers gesteuert werden, liege ich noch im Bett. Auch die ersten Nachrichten über einen vermuteten Anschlag verschlafe ich, ebenso den Einsturz der Türme. Erst als auf dem Flur unserer Unterkunft Unruhe aufkommt, unsere abgedrehte, kolumbianische Zimmergenossin reinstürmt und brüllt „We are under attack. The Twin Towers are collapsing“(Wir werden angegriffen. Die Zwillingstürme stürzen ein), beginnen meine Erinnerungen an den 11. September 2001. In einem Hostel in Monterey, Kalifornien.
Die bizarren Worte der Kolumbianerin geben mir zu dem Zeitpunkt keinerlei Anlass zur Sorge. Genervt von ihrer Vorliebe für schlechte Scherze und vor allem so früh und unsanft aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, begebe ich mich unter die Dusche. Erst als meine Freundin Svenja ins Bad kommt und mich um Eile bittet, weil es doch irgendwie ein Terroranschlag sein könnte, werde ich hellhörig. Dass die Worte der Kolumbianerin dieses Mal kein schlechter Scherz, sondern bittere Wahrheit sind, wird mir beim ersten Blick auf den Fernseher im Gemeinschaftsraum klar. Dort flimmern die Wiederholungen der entführten Flugzeuge und einstürzenden Türme über den Bildschirm. Mehrere Stunden hocken wir jungen Erwachsenen aus aller Welt dort zusammen und verfolgen die Nachrichten. Bis die Leiterin des Hostels sich entscheidet, ihr Haus zu schließen. Alle müssen raus und sehen, wie sie weiterkommen. Die einen packen einfach die Koffer in den Mietwagen, die anderen – wie auch Svenja und ich – stehen etwas ratlos mit vollen Rucksäcken und ohne Plan da.
Mit kleinem Budget, aber großen Erwartungen hatten wir uns damals nach dem Abi auf ins Abenteuer USA gewagt. Als Backpacker wollten wir drei Monate durch das Land ziehen, ohne vorher alles zu planen, sondern einfach spontan sein. Svenjas Eltern waren wenig begeistert von der Idee, aber milde gestimmt, weil ich kurz zuvor als Austauschschülerin ein Jahr in den USA verbracht hatte und zumindest die Sprache weitgehend beherrschte. Meine trauten mir das Abenteuer zu – oder taten zumindest so. Vier Wochen sind wir zu dem Zeitpunkt des Terroranschlags bereits im Land, haben wunderbare Erinnerungen gesammelt, New York und auch noch die Zwillingstürme gesehen, sind mit dem Greyhoundbus quer durch das Land an die andere Küste gefahren. Mit damals unter 21 Jahren und sehr schmaler Reisekasse kam ein eigener Mietwagen gar nicht infrage. Also ging es auch jetzt auf eigene Faust weiter.
New York City liegt in dem Moment rund 4800 Kilometer entfernt von Monterey und uns – weit weg. Aber mit vollen Rucksäcken, ohne Unterkunft und Ziel spüren wir die Folgen des Anschlags schon wenige Stunden später. Noch optimistisch machen wir uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Bus oder Zug werden uns schon weg aus dieser Kleinstadt bringen und irgendwo eine neue Bleibe finden lassen. Es kam anders. Die Nacht verbringen wir auf Bänken im Bahnhofsgebäude. Ein Mitarbeiter hat Mitleid mit uns und noch anderen gestrandeten Hostelbewohnern, lässt uns rein. Viel Schlaf finden wir nicht, in uns allen wachsen die persönlichen Sorgen. Wie geht es morgen weiter? Wie werden die USA auf den Anschlag reagieren? Wie kommen wir am besten nach Hause? Wollen wir jetzt überhaupt in ein Flugzeug steigen? Und immer wieder: Wie können wir unseren Familien zu Hause sagen, dass wir trotz aller Schrecken und Ungewissheiten wohlauf sind? Das öffentliche Telefonnetz ist immer wieder gestört, eine Verbindung ins Ausland kaum möglich. Nach dem Anschlag bleiben öffentliche Einrichtungen wie Büchereien geschlossen, von dort hatten wir sonst E-Mails verschickt – so erfuhren Familien und Freunde erst zwei Tage später, dass wir mit dem Schrecken davon gekommen sind.
Meine Gasteltern aus Idaho, bei denen ich damals das Austauschjahr verbracht hatte, vermitteln uns den Kontakt zu einer Freundin der Familie in Los Angeles. Sie will uns für ein paar Tage aufnehmen. Fern- und Nahverkehr laufen aber noch nicht wieder normal. Mal mit Bus, mal mit Zug bringen wir die rund 500 Kilometer hinter uns und klopfen drei Tage nach dem 11. September an die Tür ihres Apartments. Ungewaschen, übermüdet, hungrig und unendlich dankbar. SEITE 2 UND 3