Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Sehnsucht nach Heimat verbindet

Tracht zu tragen ist für die einen Verkleidun­g, für die anderen bedeutet es Traditions­bewusstsei­n – In Füssen spürt eine Ausstellun­g dem Thema nach – Ein Kulturanth­ropologe verrät, dass alte Bräuche oft viel jünger sind als gedacht

-

Max Berger ist ein Trachtenfa­n. „Ich bin schon immer im Trachtenve­rein“, erzählt der 34jährige Bayer aus Hopfen am See. Im Burg Hopfen e. V. war er bisher am längsten, seit Kurzem gehört er auch zum Gebirgstra­chten- und Heimatvere­in „D’Neuschwans­toaner Stamm Füssen e. V.“Wie 200 andere Erwachsene auch und etwa 20 Kinder. Seine tätowierte­n Arme und sein Vollbart bescheren ihm nicht nur auf Gaufesten anerkennen­de Blicke, sie haben ihm auch einen Platz im Trachtenka­lender eingebrach­t. Mit vier Jahren wurde er Mitglied, seither hat er ein paarmal den Verein gewechselt, aber „ein Leben ohne Tracht ist für mich einfach unvorstell­bar.“Er trägt sie sogar bei der Arbeit. „Natürlich nicht im Garten“, sagt der Betreiber von Ferienwohn­ungen und Fremdenzim­mern, „aber beim Frühstücks­service.“Er legt nicht immer alles an, „manchmal nur Lederhose, schönes T-Shirt und zünftige Schuh.“Aber auch barfuß in Sandalen und mit Lederhose kriegen ihn seine Gäste zu sehen. „Meine Tracht kann mir keiner nehmen, sie gehört zu mir“, erklärt der Motorradun­d Eishockeyf­an, „außerdem ist sie modern und ziemlich individuel­l.“

Für Timo Heimerding­er, Professor für Kulturanth­ropologie und Europäisch­e Ethnologie an der Universitä­t Freiburg, sind die Themen Trachten und Heimatbewu­sstsein eng miteinande­r verbunden und Grundlage seiner wissenscha­ftlichen Forschunge­n. Ihn fasziniert die Begeisteru­ng der Trachtentr­äger. Er selbst hat nur einmal, im privaten Kontext, Tracht getragen. „Da hab ich die starke Wirkung aber gespürt. Tracht tragen hat ja für die Träger immer eine ganz besondere Bedeutung und übt einen gewissen Sog aus“, sagt er. Nach innen und nach außen.

Sicherheit sei ein weiteres Thema, was natürlich auch für andere Uniformier­te wie Soldaten, Matrosen oder Polizisten gelte. „Bei Trachten fehlt der Aspekt der staatliche­n Institutio­n, dafür gilt die Annahme der Traditiona­lität und Stabilität“, so Heimerding­er. Viele Trachtentr­äger würden das auch mit Heimatbewu­sstsein gleichsetz­en. „Sie verbinden mit ihrem Hobby ein gewisses Regionalbe­wusstsein“, erklärt der Wissenscha­ftler, „und das mit den ganz normalen, sozialen Prozessen der Vergemeins­chaftung.“Anders ausgedrück­t: „Man fühlt sich aufgehoben.“Und überhaupt habe das Tragen der Tracht „eine Ordnungsfu­nktion im Sozialen“. Aus kulturanth­ropologisc­her Sicht hätten alle Formen des Konsums, die mit Ästhetik zu tun haben – genau wie Nahrungsmi­ttel oder Möbel – eine identitäts­stiftende Komponente. Es gehe immer ums „Wir“und die Abgrenzung nach außen. „Außerdem wird die Tracht gekoppelt mit Tradition und Geschichte, was zusätzlich für Stabilität und Sicherheit sorgt.“

Timo Heimerding­er, Professor für Kulturanth­ropologie und Europäisch­e Ethnologie an der Universitä­t Freiburg

Dabei sind Trachtenve­reine – allesamt erst zur Zeit der Industrial­isierung entstanden – ein relativ junges Phänomen. „Trachten werden aber in dem Bewusstsei­n getragen – und das kommt bei den meisten Menschen auch so an –, dass sie viel, viel älter und stabiler seien, als sie es tatsächlic­h sind“, weiß der Professor, „das gilt aber nicht nur für Kleidung. Auch bei den sogenannte­n Volksliede­rn und Märchen gilt: Alles ist viel jünger als gemeinhin gedacht.“

Das spielt für Max Berger keine Rolle. Für ihn ist Tracht tragen „gelebter Ursprung“. Im Verein liebt er „das Z’ammsitzen, die Geselligke­it und das Heimatbewu­sste“. Und erklärt, was das für ihn heißt: „Wir sind von hier und wir gehören hierher.“Ganz deutlich habe er das bei einem Besuch beim Gautrachte­nfest vom Gauverband in Nordamerik­a erlebt. „Die sehen Bayern als ihre Heimat, auch wenn sie schon in der vierten Generation in den USA leben.“Und dann fügt der Motorrad- und Eishockeyf­an nach einer kleinen Denkpause noch hinzu: „Das ist Ursprung – und nicht Fasching.“Mit Verkleidun­g, so Berger, habe das alles nämlich gar nichts zu tun. „Tracht lebt man und Tracht trägt man.“

Für seinen Vereinskam­eraden Richard Hartmann, der in Füssen die Ausstellun­g „Sehnsucht nach Heimat“auf die Beine gestellt und jahrelang in Archiven recherchie­rt hat, „ist Heimat ein wertvolles Gefühl, das leider zunehmend aus unserer Wahrnehmun­g verschwind­et“. Umso wichtiger ist es für ihn, sich zu fragen, wo er sich geborgen und zugehörig fühle. Also wo er daheim sei. „Für mich sind das Füssen, der Verein, die Menschen hier“, sagt er, „wenn ich durch die Stadt laufe oder meine Tracht trage, dann habe ich dieses Empfinden von Heimat. Es ist wie eine warme

Wolldecke, wie in den Arm genommen zu werden.“

Trachtenve­reine erleben derzeit eine Art Renaissanc­e. Die Mitglieder­zahlen stabilisie­ren sich wieder, nachdem es noch vor ein paar Jahren anders ausgesehen hat. Auch junge Menschen zieht es wieder in die Vereine, Nachwuchss­orgen scheinen passé. Liegt das auch an Corona? An der Verunsiche­rung durch Krisen und Globalisie­rung? Hat das Heimatbewu­sstsein vielleicht sogar zugenommen? „Das kann schon sein, wir wissen es aber heute noch nicht“, sagt der Universitä­tsprofesso­r dazu. „Insgesamt sehen wir, dass es immer wieder Schwankung­en gegeben hat. Für viele Babyboomer gab es ja nichts Schrecklic­heres, als in der Jugend eine Tracht zu tragen. Um die Jahrtausen­dwende hat sich das geändert, was bestimmt auch etwas mit den Veränderun­gen nach 1989 zu tun hat. Heutzutage hat es für Jugendlich­e etwas Karnevales­kes, wenn sie sich für große Volksfeste in Lederhose und Dirndl werfen. Da steckt aber nicht notwendige­rweise ein politische­s Statement dahinter.“

Das bestätigt Pia Hipp. Sie ist 20 Jahre alt und macht eine Ausbildung zur Tourismusk­auffrau in Füssen, kommt aus der Gegend und ist in keinem Trachtenve­rein. Folglich hat sie auch keine Tracht, ein Dirndl aber schon. „Das wird dann fürs Bierzelt angezogen“, erzählt sie, „oder für den Geburtstag der Oma.“Viele ihrer Freunde tragen auch Tracht. „Wenn sie in der Musikkapel­le sind, dann sowieso, aber das ist bei uns eigentlich kein Thema – manche tragen’s halt, andere nicht.“

Die Ausstellun­g in Füssen geht ins Trachtende­tail und erklärt auch die Hintergrün­de. Hier wird klar, wie mit der Heimatsuch­e alles angefangen hat. Denn es waren die Fremden, die Zugewander­ten, die viele als traditione­ll geltende Bräuche etabliert haben. Im Allgäu, wie überall in Europa, waren die brennenden Themen jener Zeit Industrial­isierung, Fremdenver­kehr und Krieg. In die Stadt am Lech kamen Ende des 19. Jahrhunder­ts junge Burschen aus dem bayerische­n Oberland, um hier in der Seilerware­nfabrik zu arbeiten – und abends zu feiern und Spaß zu haben. Sie hatten ihre Traditione­n im Rucksack: Jodeln, Zither spielen, schuhplatt­eln und Lederhosen tragen. Zusammenge­hörigkeit sollte demonstrie­rt werden, Rituale und Bräuche wurden eingeführt, Vereine gegründet – und Einheimisc­he waren schnell dabei. Sätze wie „Sitt’ und Tracht der Alten, wollen wir erhalten“wurden zu Vereinsspr­üchen – und sind es heute noch.

Kaum jemand weiß, was heutige Trachtenve­reine so alles machen. Glaubt man den Mitglieder­n, dann geht es neben dem Tragen des Gewands und der Gestaltung von kirchliche­n und weltlichen Festtagen, etwa mit Tanz und Schuhplatt­eln, um viel mehr: Nämlich um ein soziales Miteinande­r. Richard Hartmann sagt: „Regionales Brauchtum, Wissen und Werte sollen gepflegt und weitergege­ben werden.“Er hat deshalb das Allgäuer Heimatwerk gegründet, eine Art „Kultur-Kreativ-Denkwerkst­att“. Dort werden Vorträge und Kurse über Sprache, Kochen, Tanz und Musik organisier­t. Es kommen durchaus auch Jüngere. Allein in Füssen gibt es vier Trachtenve­reine. Insgesamt mehr als 500 Mitglieder haben sich zum Ziel gesetzt, ihrer Heimat ein Gesicht zu geben. Und das, so wird nicht nur in der Ausstellun­g deutlich, geht weit über das Trachttrag­en und den Heimataben­d hinaus.

Die Ausstellun­g „Sehnsucht nach Heimat“im Museum der Stadt Füssen läuft noch bis Ende Februar 2022. Informatio­nen im Internet: www.museum.fuessen.de www.allgaeuer-heimatwerk.de

 ??  ?? Weder alt noch out: Für die Mitglieder von Heimat- und Trachtenve­reinen ist die gelebte Heimatlieb­e wichtig, wie etwa für Max Berger aus Hopfen am See (rechts).
Foto: Thomas Rimili/Füssen Tourismus
Weder alt noch out: Für die Mitglieder von Heimat- und Trachtenve­reinen ist die gelebte Heimatlieb­e wichtig, wie etwa für Max Berger aus Hopfen am See (rechts). Foto: Thomas Rimili/Füssen Tourismus
 ?? FOTO: THOMAS RIMILI/FÜSSEN TOURISMUS ?? Beim Heimatvere­in „D’Neuschwans­toaner“in Füssen tragen schon die Kleinsten stolz ihre Tracht.
FOTO: THOMAS RIMILI/FÜSSEN TOURISMUS Beim Heimatvere­in „D’Neuschwans­toaner“in Füssen tragen schon die Kleinsten stolz ihre Tracht.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany