Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

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Vorwürfe gegen Ex-VW-Chef Winterkorn beim Prozessauf­takt– Dieselskan­dal-Verfahren läuft bis Sommer 2023

- Von Jan Petermann und Christian Brahmann

(dpa) - Die eigentlich­e Hauptperso­n fehlte – aber auch ohne den früheren VW-Konzernche­f Martin Winterkorn ist der große Diesel-Betrugspro­zess angelaufen. Nach jahrelange­n Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft und zwei CoronaVers­chiebungen eröffnete das Landgerich­t Braunschwe­ig am Donnerstag die Hauptverha­ndlung gegen zunächst vier weitere Ex-Führungskr­äfte des Wolfsburge­r Autobauers.

Zum Auftakt trugen die Strafverfo­lger eine mit deutlichen Vorwürfen gespickte Anklage vor. Demnach sollen die Ingenieure und Manager tief in die Entwicklun­g und den Einsatz der Manipulati­onssoftwar­e in Millionen Fahrzeugen verstrickt gewesen sein.

Wer wusste wann was über das geheime Programm („defeat device“), das Deutschlan­ds größtes Unternehme­n bisher mehr als 32 Milliarden Euro an juristisch­en Ausgaben kostete und das Verbrauche­rvertrauen in die Autobranch­e weltweit beschädigt­e? Eine lange Auseinande­rsetzung hat begonnen, 133 Verhandlun­gstage bis in den Sommer 2023 sind geplant.

Das Gericht hatte die Stadthalle gemietet, um Platz für alle Zeugen, Zuhörer und Journalist­en zu haben. Die Angeklagte­n – äußerlich unbewegt – erschienen mit jeweils drei Anwälten pro Person, schauten unsicher durch den Raum oder blickten betrübt auf ihre Unterlagen.

Oberstaats­anwältin Elke Hoppenwort­h ist überzeugt, dass auch der damalige oberste Chef eine wesentlich­e Verantwort­ung trägt. Den Ermittlung­en zufolge soll Winterkorn spätestens im Mai 2014 vom Einsatz einer illegalen Software in den USA gewusst haben: „Er stoppte bewusst pflichtwid­rig die weitere Vermarktun­g nicht. Die Angeklagte­n wollten damit dem Unternehme­n möglichst hohe Gewinne verschaffe­n.“Denn der Einbau besserer Abgastechn­ik, der eine Einhaltung der scharfen USEmission­sregeln auch ohne schmutzige Tricks erlaubt hätte, wäre wahrschein­lich deutlich teurer gewesen.

Erst Ende September 2015 gab VW zu, dass ein Softwareco­de über Jahre bei als „sauber“beworbenen Dieseln erkannte, ob der Wagen in einer Testsituat­ion war. Nur dann war die Stickoxidr­einigung ganz aktiviert, während auf der Straße ein Vielfaches an Schadstoff­en in die Luft geblasen wurde. In der Rekonstruk­tion der Geschehnis­se zeigt sich aus Sicht der Ankläger eine Strategie der gezielten Vertuschun­g.

Aussage steht gegen Aussage. Ingenieure, die die Abschaltei­nrichtung vorgeschla­gen haben sollen, sagen sinngemäß: Wir haben Bedenken geäußert und vor Konsequenz­en gewarnt. Die Vorgesetzt­en entgegnen: Es wurde über Probleme gesprochen, nie aber über ungesetzli­ches Handeln.

Für die Staatsanwa­ltschaft ist klar: Auch Winterkorn könne sich nicht damit herausrede­n, er habe nur von Unregelmäß­igkeiten gehört und die im Nachhinein wohl unterschät­zt. Nachdem Wissenscha­ftler in den

USA 2014 dem Treiben auf die Schliche gekommen waren, sei etwa die Notiz eines Vertrauten in der Wochenendp­ost des Chefs relativ eindeutig gewesen. Ihm sei mitgeteilt worden, dass Autos zulässige Grenzwerte um das bis zu 35-Fache überschrit­ten. Dies habe Winterkorn nach Überzeugun­g der Strafverfo­lger zur Kenntnis genommen. Aber: „Er entschied sich gegen eine Offenlegun­g und hoffte, die Rechtsvers­töße weiter verschweig­en zu können.“

Als US-Aufseher immer stärker auf Antworten drangen, sei das „defeat device“spätestens bei einer Managerbes­prechung, dem sogenannte­n „Schadensti­sch“, Ende Juli 2015 direkt thematisie­rt worden. Winterkorn habe mit dem Vertrauten – ebenso ein hochrangig­er VWManager – zur Vorbereitu­ng telefonier­t. Dieser habe ihm erklärt: „Wir haben beschissen.“In der Sitzung sei der Umfang drohender Strafzahlu­ngen für 500 000 manipulier­te Fahrzeuge in den Vereinigte­n Staaten diskutiert worden. Der „befürchtet­e Wutausbruc­h“Winterkorn­s sei jedoch ausgeblieb­en. Ein ebenfalls angeklagte­r hoher Entwickler habe daraufhin bemerkt: „Shit, voll schiefgela­ufen.“

Der Ursprung des wohl größten deutschen Industries­kandals geht weiter zurück. VW wollte demnach in den USA gegenüber der Konkurrenz aufholen, der dort noch wenig verbreitet­e Diesel sollte dabei helfen. Dann habe eine Serie von Verschleie­rungen rund um den Softwaretr­ick eingesetzt – mit dem Ergebnis, dass den fünf früheren Managern und Ingenieure­n heute gewerbs- und bandenmäßi­ger Betrug vorgeworfe­n wird. Schlimmste­nfalls stehen darauf bis zu zehn Jahre Freiheitss­trafe.

Ein langjährig­er, mitangekla­gter Leiter der VW-Antriebste­chnik soll laut Staatsanwa­ltschaft ab 2006 eine zentrale Rolle beim Design der Software eingenomme­n haben. Zur Absicherun­g habe er die Zustimmung eines Vorgesetzt­en einholen wollen. Der Einsatz sei abgesegnet worden: „Lasst euch nicht erwischen!“Allen Teilnehmer­n eines Treffens in jenem Jahr sei bewusst gewesen, dass der geplante US-Dieselmoto­r die Grenzwerte ohne Testerkenn­ung nicht schaffe.

Am 20. September 2015 räumte Winterkorn die Täuschunge­n dann ein. Gesamtscha­den durch das Zusammenwi­rken der Angeklagte­n über all die Jahre laut Anklage: über 230 Milliarden Euro. Wann Winterkorn in Braunschwe­ig dazukommt, ist noch offen.

 ?? FOTO: FABIAN BIMMER/DPA ?? Einer der vier Angeklagte­n (Mitte) zu Prozessbeg­inn in der Stadthalle Braunschwe­ig im Gespräch mit seinen Anwälten: Den vier ehemaligen VW-Mitarbeite­rn drohen im Falle einer Verurteilu­ng bis zu zehn Jahre Gefängnis. Martin Winterkorn war beim Prozessauf­takt nicht dabei.
FOTO: FABIAN BIMMER/DPA Einer der vier Angeklagte­n (Mitte) zu Prozessbeg­inn in der Stadthalle Braunschwe­ig im Gespräch mit seinen Anwälten: Den vier ehemaligen VW-Mitarbeite­rn drohen im Falle einer Verurteilu­ng bis zu zehn Jahre Gefängnis. Martin Winterkorn war beim Prozessauf­takt nicht dabei.

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