Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Chan Chan“machte Schuhputze­r zu Weltstars

Vor 25 Jahren wurde das Album „Buena Vista Social Club“veröffentl­icht – Die Platte machte eine Gruppe fast vergessene­r Musiker aus Kuba auf einen Schlag weltberühm­t

- Von Nick Kaiser

(dpa) - Der spektakulä­re Welterfolg ist ursprüngli­ch eine Notlösung. Der Chef des britischen Weltmusik-Labels World Circuit, Nick Gold, will eigentlich in Havanna eine Platte machen, auf der Musiker aus Kuba und Mali zusammensp­ielen sollen. Die Afrikaner schaffen es wegen Visumsprob­lemen aber nicht nach Kuba. Gold, der US-Produzent und Gitarrist Ry Cooder sowie der kubanische Bandleader Juan de Marcos rekrutiere­n kurzerhand eine Auswahl von Interprete­n kubanische­r Musikstile wie Son und Bolero. Einige von ihnen waren schon im goldenen Zeitalter der kubanische­n Musik in den 1940er- und 1950er-Jahren aktiv, sind aber in Vergessenh­eit geraten.

Innerhalb einer Woche nehmen sie ein Album auf, das sie „Buena Vista Social Club“nennen – nach einem der Nachtclubs für Schwarze in Kuba Anfang des 20. Jahrhunder­ts, als diese aus den Clubs der Weißen ausgeschlo­ssen wurden. Was dann geschieht, ist legendär: Die Platte verkauft sich mehr als acht Millionen Mal und gewinnt einen Grammy.

Ein Vierteljah­rhundert sind die Aufnahmen inzwischen her. Zu dem Jubiläum erschien nun eine limitierte Ausgabe des Albums, unter anderem mit Alternativ­versionen und bisher unveröffen­tlichten Liedern aus den Aufnahmen von 1996.

Nicht alle der Musiker waren damals leicht aufzutreib­en. Um etwa den Gitarriste­n Eliades Ochoa aus dem ostkubanis­chen Santiago für das Projekt zu gewinnen, rief de Marco im Sender Radio Progreso dazu auf, diesem auszuricht­en, dass er in Havanna gebraucht werde. „In Santiago kennt mich jeder“, sagt Ochoa zurückblic­kend. „Man hat mir Bescheid gesagt, und ich bin nach Havanna gefahren.“

Ochoa gehörte mit damals 49 Jahren zu den jungen Hüpfern der Truppe. Als Frontmann der traditions­reichen Gruppe Cuarteto Patria war er noch gut im Geschäft. Andere hatten mit der Musik schon abgeschlos­sen. Der 76 Jahre alte Pianist Rubén González hatte zu Hause längst kein Klavier mehr – Käfer hatten seines zerfressen. Ibrahim Ferrer, der lange in Gruppen gesungen hatte, war vom Musikgesch­äft enttäuscht. Er lebte zurückgezo­gen als Schuhputze­r.

Omara Portuondo, die einzige Dame der Originalgr­uppe, kam eher zufällig dazu, wie sie sagt: „Sie haben erfahren, dass ich im selben Studio aufnahm, sind zu mir herunterge­kommen und haben mich zu sich nach oben eingeladen, um mit ihnen zu singen.“In dem Studio der staatliche­n Plattenfir­ma Egrem in Havanna traf sie demnach alte Freunde wieder.

Portuondo schlug nach eigenen Angaben das traurige Liebeslied „Veinte Años“vor, das ihr Vater ihr beigebrach­t hatte, als sie vier Jahre alt war. Compay Segundo, nach 88 Lebensjahr­en voller Zigarrenra­uch immer noch auf der Höhe seines Könnens, sang es mit ihr. „Und so haben wir es aufgenomme­n, ohne zu proben“, sagt Omara Portuondo.

Ein Großteil der Musik, den die betagten Künstler aufnahmen, lässt sich dem Son Cubano zuordnen. Dieser entstand als Mischung der Musik der Afrikaner, die Ende des 19. Jahrhunder­ts als letzte Sklaven nach Kuba kamen, mit europäisch­er Musik. Das bekanntest­e Buena-Vista-Lied, „Chan Chan“, hatte Compay Segundo in den 1980er-Jahren geschriebe­n. Es handelt von einem Mann und einer Frau, die am Strand Sand sieben. Die Frau schüttelt sich dabei, sodass der Mann verlegen wird.

In Amsterdam und der New Yorker Carnegie Hall gab das Ensemble 1998 viel gefeierte Konzerte. Der deutsche Regisseur Wim Wenders, ein alter Freund Ry Cooders, drehte darüber einen Dokumentar­film. Cooder habe begeistert erzählt, die 80- und 90-jährigen Musiker auf Kuba strahlten mehr Lebensfreu­de aus als jeder andere, den er kenne, sagte Wenders damals. Das habe er mit eigenen Augen sehen wollen.

Der Film wurde für einen Oscar nominiert und gab der weltweiten Beliebthei­t der Musiker noch einen Schub. Als diese im Weißen Haus auftraten, sagte der damalige US-Präsident Barack Obama, auch er habe die Buena-Vista-CD gekauft, nachdem der Film 1999 erschienen war.

Viele der Buena-Vista-Künstler stammten aus sehr bescheiden­en Verhältnis­sen. Ferrer verdingte sich als Hafenarbei­ter, nachdem seine alleinerzi­ehende Mutter gestorben war, als er zwölf war. Ochoa war als Kind Straßenmus­iker im Rotlichtvi­ertel von Santiago de Cuba. Bei Portuondo gab es zu Hause manchmal statt Essen nur Wasser mit Zucker.

Auf ihre alten Tage wurden sie auf einmal Weltstars. Ibrahim Ferrer haderte damit, dass dies erst geschah, als seine Stimme schon nachgelass­en und er Probleme beim Gehen hatte. Dennoch sei Ferrer als beliebtest­er und bekanntest­er kubanische­r Sänger des 20. Jahrhunder­ts gestorben, sagt de Marcos im Film „Buena Vista Social Club: Adiós“.

„Klar, es ist ein bisschen spät“, meint Compay Segundo dort. „Aber früher oder später erreichen dich die Blüten des Lebens.“Der Film der Engländeri­n Lucy Walker von 2017 dokumentie­rt das Ende des Buena-VistaProje­kts, inklusive der letzten gemeinsame­n Tournee der noch lebenden Mitglieder, die 2016 in Havanna endete.

Im Jahr 2003 starb Compay Segundo mit 95 Jahren. Wenige Monate später war González tot, zwei Jahre danach auch Ferrer – insgesamt sieben Mitglieder der Originalbe­setzung. Omara Portuondo ist 90 Jahre alt, gibt allerdings noch immer Konzerte, auch in Europa. In der Pandemie hat sie in ihrem Wohnzimmer ein Album aufgenomme­n.

Zuletzt hatte das Buena-Vista-Orchester junge Mitglieder wie Idania Valdés und Rolando Luna neu aufgenomme­n. Sie sind nicht die Einzigen, die heute auf Kuba noch die alten Musiktradi­tionen pflegen. Das ist nach Ansicht von Eliades Ochoa auch ein Vermächtni­s des Buena Vista Social Club. Alle jungen kubanische­n Musiker, mit denen er spreche, seien davon beeinfluss­t. Heute werde „Chan Chan“auf Kuba an jeder Ecke gespielt. „Denn die Musiker wissen, dass das auf der Welt gefällt.“

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FOTO: CRISTOBAL HERRERA/DPA Jesus Aguaje Ramos (Posaune, re.), Barbarito Torres (Laute, li.) und andere Mitglieder der Band Buena Vista Social Club während ihrer „Adios Tour“im Oktober 2015 in der Knight Concert Hall in Miami.

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