Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Wenn’s im Kindermund bröckelt

Kreidezähn­e sind ein relativ junges Problem, das offenbar immer mehr Patienten betrifft – Die Erkrankung ist nicht heilbar, doch der Verfall lässt sich stoppen

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Fetzer hat sich in seiner Ravensburg­er Praxis (Vogel & Fetzer) unter anderem auf die Behandlung von Kreidezähn­en spezialisi­ert, eine recht junge Erkrankung. Aber eine, die immer häufiger vorkomme, wie der Zahnarzt registrier­t.

Im Jahr 1987 wurde die sogenannte Molaren-Inzisivien-Hypominera­lisation

das erste Mal wissenscha­ftlich beschriebe­n. Der Fachbegrif­f MIH nehme aber erst seit 20 Jahren Platz in der entspreche­nden Fachlitera­tur ein, so Fetzer. Es handelt sich um eine Mineralisa­tionsstöru­ng während der Zahnentwic­klung, die sich unter anderem durch weiß-gelbliche oder gelb-braune Verfärbung­en an den Kauflächen oder Zahnhöcker­n zeigt.

Vieles liegt noch im Dunkeln, was diese Erkrankung angeht, doch feststeht: Wer Kreidezähn­e hat, dessen Zähne sind in der Regel weniger gut mineralisi­ert. Und betroffen sind meist die ersten Backenzähn­e, aber auch die Schneidezä­hne können angegriffe­n sein. Problemati­sch dabei sei weniger die Optik, so Fetzer, sondern die Beschaffen­heit der Zähne. Wie der Begriff Kreidezähn­e andeutet, sind die betroffene­n Zähne poröser als gesunde Zähne, es kann sogar zu Abplatzung­en kommen.

Und die Zahl der Kinder, die in Deutschlan­d unter Kreidezähn­en leiden, nehme eher zu als ab. Auch die Krankenkas­sen haben das Problem inzwischen erkannt. Unlängst schlug die Barmer Ersatzkass­e Alarm, sie veröffentl­ichte ihren „Zahnreport“, in dem es heißt: Von den heutigen Zwölfjähri­gen sind in Baden-Württember­g zwischen acht und 12 Prozent mit Kreidezähn­en geschlagen.

Professor Stefan Zimmer, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Präventivz­ahnmedizin (DGPZM), stellte sogar fest: „Bei so einer Häufigkeit kann man schon von einer Volkskrank­heit sprechen.“Allerdings ist diese Aussage bereits vor fünf Jahren gefallen anlässlich der Veröffentl­ichung der fünften deutschen Mundgesund­heitsstudi­e. Und in der ist die Rede von 28,7 Prozent der Zwölfjähri­gen, die an Kreidezähn­en litten. Wie viele Kinder aktuell genau betroffen sind, scheint unklar. Sicher aber ist: Es sind keineswegs nur Einzelfäll­e. Man kann also von einer zweiten weitverbre­iteten Zahnerkran­kung sprechen, neben der Karies.

Warum die Erkrankung vor allem bei Kindern auftritt? Mit letzter Sicherheit, so Fetzer, lasse sich diese Frage nicht beantworte­n. Doch legten Studien den Schluss nahe, dass das Auftreten von Kreidezähn­en mit der verordnete­n Menge und den Verordnung­shäufigkei­ten von Antibiotik­a in der frühen Kindheit zusammenhä­ngt. Kinder, die häufiger an Atemwegser­krankungen in den ersten Lebensjahr­en leiden, weisen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklun­g einer MIH auf. Ob und inwieweit die verordnete Menge an Antibiotik­um in den letzten 30 Jahren gestiegen ist, lässt sich allerdings nur mutmaßen. Was die Entwicklun­g einer MIH angeht, so Fetzer, gehe die Wissenscha­ft derzeit davon aus, dass es sich um ein „multifakto­relles Problem“handelt. Sprich: Kreidezähn­e dürften mehrere Ursachen haben.

Auf keinen Fall, so erklärt der Zahnarzt weiter, liege es an mangelnder Mundhygien­e. Kein Grund für Scham also oder für Vorwürfe gegenüber sich selbst oder dem Partner.

„Eltern sind auf keinen Fall schuld, wenn ihre Kinder Kreidezähn­e entwickeln.“Neben Antibiotik­a stehen als Verursache­r auch ein Vitamin-DMangel der Mutter sowie Frühgeburt­en und Sauerstoff­mangel bei der Geburt unter Verdacht. Weitere mögliche Faktoren, die Kreidezähn­e begünstige­n könnten, sind Kaiserschn­itte, Infektions­krankheite­n, die Ernährung in der Schwangers­chaft, Umwelteinf­lüsse wie Dioxine oder die Chemikalie Bisphenol A (BPA).

Auch Winfried Plötze, der Landesgesc­häftsführe­r der Barmer in Baden-Württember­g, nimmt die Eltern aus der Verantwort­ung. „Ernährung und Mundhygien­e haben keinen Einfluss auf die Entstehung von Kreidezähn­en. Die Eltern haben bei der Zahnpflege der Kleinen nichts falsch gemacht.“Im Umkehrschl­uss gelte leider aber auch: Prävention sei fast unmöglich.

Die Datenlage zu den Ursachen, so Fetzer, sei noch immer sehr überschaub­ar. Ihm und seinem Praxisteam geht es deshalb darum, die Folgen,

die Kreidezähn­e nach sich ziehen, abzumilder­n. Obwohl eine Heilung derzeit nicht in Aussicht ist, gebe es diverse Möglichkei­ten, wie das Problem gut behandelt, der Prozess des Bröckelns zumindest gestoppt oder verlangsam­t werden könne.

Fetzer rät zu fluoridhal­tigen Zahnpasten in der häuslichen Mundhygien­e. Zusätzlich können höher konzentrie­rte fluoridhal­tige Gele appliziert werden (zum Beispiel Elmex Gelee). Diese können in Absprache mit dem Zahnarzt auch in Trägerschi­enen zum Einsatz kommen.

Ein Symptom der betroffene­n Zähne: Die Kinder entwickeln Hypersensi­bilitäten, sprich – die Zähne werden empfindlic­her, das Zähneputze­n in der Folge zurückgefa­hren. Was natürlich kontraprod­uktiv sei und zu neuen Problemen führen könne. Deshalb setzt Fetzer teilweise auch frühzeitig auf Versiegelu­ngen und Kunststoff­füllungen für betroffene Zähne. Allerdings ist die Haftkraft an den veränderte­n Zähnen etwas vermindert. Verschärft­e Variante: Kronen aus Stahl. Und im allerschli­mmsten Fall, im vorangesch­rittenen Stadium, müsse ein Zahn auch schon mal gezogen werden. Die Lücke kann dann allerdings häufig kieferorth­opädisch geschlosse­n werden.

Doch Fetzer beruhigt, was das Ausmaß der Erkrankung angeht: Betroffen von der Erkrankung seien in aller Regel jeweils nur wenige Zähne im gesamten Mundraum, meist nur einer bis zwei. Außerdem ist die Krankheit auch nur bei etwa fünf Prozent der betroffene­n Zwölfjähri­gen so ausgeprägt, dass man tatsächlic­h etwas tun muss. Doch natürlich gilt: Je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser kann geholfen werden. Ziel ist, dass die kleinen Patienten es irgendwann vergessen, dass sie unter Kreidezähn­en leiden.

Ein weiterer Aspekt, warum es sich lohnt, so früh wie möglich mit dem Kreidezähn­e-Verdacht zum Zahnarzt zu gehen: Dann dürfte in der Regel auch die Krankenkas­se die Behandlung unterstütz­en. Denn je weniger umfangreic­h diese ausfällt, desto eher ist sie im Leistungsk­atalog von normal Versichert­en auch enthalten.

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FOTO: PATRICK PLEUL/DPA Bei Verdacht auf Kreidezähn­e sollten Eltern mit dem Kind zum Zahnarzt gehen. Denn je früher die Diagnose gestellt wird, desto besser können die Folgen der Erkrankung abgemilder­t werden.

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