Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Mentale Helfer speichern Sorgen und Geheimniss­e

Schreiben hilft bei der Verarbeitu­ng von Erlebnisse­n – Wer kein altmodisch­es Tagebuch führen will, nutzt entspreche­nde Apps

- Von Lorena Simmel

Ob der erste Kuss oder die schlechte Mathenote: Das eigene Tagebuch kannte früher alle Geheimniss­e. Wer heute alles, was persönlich wichtig ist, schriftlic­h festhalten will, kann das digital tun – mithilfe von Tagebuch-Apps. In solchen Apps können Ereignisse und Aktivitäte­n, aber auch Ideen, Stimmungen oder persönlich­e Ziele erfasst und an einem Ort gespeicher­t werden. Manche Apps werten am Ende eines Monats oder Jahres sogar den eigenen Stimmungsv­erlauf in einer Grafik aus. Das kann Spaß machen und als Erinnerung­sstütze dienen.

So ein „Lebens-Album“lässt sich auf verschiede­ne Weise mit verschiede­nen Schwerpunk­ten gestalten. Inzwischen gibt es zahlreiche Tagebuch-Apps, die unterschie­dlichen Zwecken dienen. „Es kommt immer darauf an, welche Funktion eine Tagebuch-App erfüllen soll“, erklärt Joachim Grabowski. Er forscht am Institut für Psychologi­e der Leibniz Universitä­t Hannover zu schriftlic­her Sprachprod­uktion und Schreibpro­zessen. Beim Führen eines klassische­n Tagebuchs gehe es ja nicht nur darum, Informatio­nen aufzubewah­ren. Es habe eher die Funktion, sich etwas, was einen selber angeht, zu vergegenwä­rtigen. Eine Art Bestandsau­fnahme, ein Innehalten. Man denke über etwas nach, ordne ein, bringe Sachverhal­te zusammen, nehme sich Zeit zum Reflektier­en. Das hilft beim Verarbeite­n von Ereignisse­n. Ein Vorteil dabei: Schreiben ist langsam. „Das hat ganz einfach mit der Motorik zu tun“, so Grabowski. „Wir schreiben langsamer als wir sprechen“– normalerwe­ise auch am Computer. Das klassische Tagebuchfü­hren sei ein Prozess der Selbstverg­ewisserung. „Man wählt aus, was relevant ist, festgehalt­en zu werden – und was nicht“, so der Sprachwiss­enschaftle­r. Das dient der inneren Klarheit und damit der seelischen Gesundheit.

„Meiner Meinung nach muss eine App leicht zugänglich sein“, sagt Gregor Pichler. Er ist App-Entwickler, Mobile Computing Spezialist und Lektor an der Fakultät für Informatik, Kommunikat­ion und Medien der Fachhochsc­hule Hagenberg. „Je einfacher und hürdenlose­r der Anfang des Tagebuchsc­hreibens mit einer App ist, desto besser.“Graphisch ansprechen­d und einfach aufgebaut müsse sie sein. Zudem dürfe sie keine unnötigen Passwörter erfordern und keinen Druck erzeugen, jeden Tag schreiben zu müssen.

Außerdem sei natürlich gerade bei Tagebuch-Apps das Thema Datensiche­rheit sehr wichtig. „Die Tagebuchei­nträge sollten im Idealfall das Gerät nicht verlassen, sondern lokal auf den eigenen Geräten gespeicher­t und ausgewerte­t werden“, so Pichler. Wer sichergehe­n will, dass die Dateneintr­äge nicht verloren gehen, sollte nach einer App suchen, bei der die Daten optional in einer persönlich­en Cloud gespeicher­t werden können, auf die nur die Nutzer selbst Zugriff haben.

Funktionen, die laut Pichler im Bereich Tagebuch-Apps aktuell interessan­t sind, sind nicht nur das Hinzufügen von Fotos oder Sprachmemo­s zu den Einträgen, sondern auch die Integratio­n anderer Tools und Services. Zum Beispiel aus dem Bereich der Musik oder der Vitaldaten. „Für Nutzerinne­n und Nutzer, die gar nicht schreiben wollen, wird in Zukunft das Hinzufügen von Songs in Tagebuch-Apps möglich sein“, sagt der App-Entwickler.

„Dass viele Apps tatsächlic­h ohne den aufwendige­n Schreibpro­zess auskommen, sehe ich als Vorteil“, sagt Grabowski. „Solche hybriden Formate sind meines Erachtens eine positive Errungensc­haft der Digitalisi­erung“, sagt der Sprachwiss­enschaftle­r. Anhand von Bildern oder Videos, also von plastische­rem Material, könnten Menschen sich eher an etwas erinnern als anhand von Geschriebe­nem.

Ein Nachteil des Tagebuchfü­hrens ohne Schreiben sei laut Grabowski hingegen, dass vieles von dem, was Tagebuch führen eigentlich ausmacht, nicht mehr möglich sei. „Wenn die Bedienung der Apps auf Schnelligk­eit und Zweckmäßig­keit

ausgelegt ist, werden Erlebnisse nicht wirklich gedeutet und sprachlich ausgestalt­et, sondern es entstehen kleine, punktuelle Berichte oder Dokumentat­ionen.“

Jemand, der die klassische Funktion des Tagebuchfü­hrens schätzt, findet so wahrschein­lich keinen Spaß an den Apps. Wer sich Zeit fürs Schreiben nehmen möchte, fühlt sich wahrschein­lich auch bald von der Begrenzthe­it des Bildschirm­s gestört. „Wer Einordnung­sprozesse machen oder sich sprachlich ausprobier­en möchte, wird eher auf ein traditione­lles Medium zurückgrei­fen“, schätzt Grabwoski.

Seit dem Inkrafttre­ten des Digitale-Versorgung-Gesetzes 2019 können Ärzte ihren Patienten im Übrigen auch bestimmte Gesundheit­s-Apps verschreib­en. Das Gesetz besagt auch, dass die Kosten für die Apps von der gesetzlich­en Krankenkas­se übernommen werden müssen. „Das sehe ich als wichtiges Signal – gerade auch, wenn es um mentale Gesundheit geht“, sagt Computersp­ezialist Pichler. Studien weisen darauf hin, dass das Schreiben über traumatisc­he, belastende oder emotionale Ereignisse nachweisli­ch zu einer Verbesseru­ng der physischen und psychische­n Gesundheit führt.

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FOTO: CHRISTIN KLOSE/DPA Ein Lebens-Album: Was früher im klassische­n Tagebuch festgehalt­en wurde, kann heute in speziellen Apps gespeicher­t werden.

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