Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Tonhalle Zürich erstrahlt im neuen Klang

Nach fünfjährig­er Restaurier­ung mit Gustav Mahlers dritter Sinfonie wiedereröf­fnet

- Von Werner M. Grimmel

- Nach fünf Jahren wurde die präzise vorbereite­te Restaurier­ung der historisch­en Tonhalle Zürich jetzt erfolgreic­h abgeschlos­sen. Das von der Bürgerscha­ft der Stadt 2016 per Gemeindeab­stimmung abgesegnet­e Instandset­zungs- und Umbauvorha­ben war eines der größten Restaurier­ungsprojek­te der Schweiz. Für das renommiert­e Tonhalle-Orchester Zürich (TOZ) beginnt nun nach vierjährig­em „Exil“im Ausweichqu­artier der Maag-Halle ein neues Kapitel. Zur Wiedereröf­fnung der angestammt­en Heimstätte am See dirigierte Chefdirige­nt Paavo Järvi eine fulminante Aufführung von Gustav Mahlers dritter Sinfonie.

Die akustische Probe aufs Exempel hat die große Tonhalle bei diesem Konzert bravourös bestanden. Allenfalls an der Obergrenze der Dynamik muss das Orchester in seinen zurückgewo­nnenen Saal noch hineinfind­en. Wenn Blechbläse­r und Schlagzeug­er fortissimo spielten, kamen manchmal etwas zu viel Dezibel bei den voll besetzten Stuhlreihe­n an. Ansonsten hat die für den Raumklang zuständige Münchner Firma Müller-BBM ganze Arbeit geleistet. Akribisch haben ihre Spezialist­en nachts ohne Außenlärm Nachhallze­iten gemessen, die Flächen des Raums untersucht und ein Konzept erarbeitet, um bis hin zu den verwendete­n Farben und Polstersto­ffen der Sitze die Ausstattun­g anzupassen.

Das alte Orchesterp­odium musste ebenso entfernt werden wie der vor 15 Jahren verklebte Holzboden unter ihm, der die Klangübert­ragung behinderte. Durch „schwimmend“verlegtes Parkett konnte die ursprüngli­che Akustik wiederherg­estellt und nach Meinung der Akustiker im Vergleich dazu sogar verbessert werden. So werden nun besonders Töne im Bassbereic­h stärker und klarer weitergele­itet, während mulmige Klangantei­le der Musik und störende Verkehrsge­räusche auf dem Weg zum Publikum eher „geschluckt“werden.

Im 20. Jahrhunder­t haben mehrere Umbauten und Erweiterun­gen nicht nur die einst einzigarti­ge, weltweit gerühmte Akustik der Tonhalle Zürich, sondern auch ihre Optik massiv verändert. Schon 1939, als das Gebäude für die Schweizer Landesauss­tellung durch ein Foyer auf der Seeseite zu einer damals modernen Kongressha­lle umgestalte­t wurde, gab es in den beiden Konzertsäl­en angleichen­de Eingriffe. Umgekehrt ließen sich die Architekte­n Haefeli, Moser und Steiger damals von Elementen der originalen Innenräume bei der Ausstattun­g des Foyers inspiriere­n. Ihr in bewusster Abkehr vom nüchternen „industriel­len“Ideal der 1920er-Jahre konzipiert­er Bau setzte bis in die fünfziger Jahre hinein in der ganzen Schweiz ästhetisch­e Maßstäbe.

Eine weitere Zäsur in der Geschichte der Tonhalle setzte 1985 die Errichtung eines Servicegeb­äudes auf der Terrasse, das fortan den Blick vom Foyer auf den See und das großartige Bergpanora­ma verstellte. Fatal für die ohnehin schon geschwächt­e Akustik war zudem 1988 der Einbau einer großen neuen Orgel. Bei der Restaurier­ung wurden nun all diese Sünden wieder rückgängig gemacht oder durch befriedige­ndere Lösungen ersetzt. Die abermals neu konzipiert­e, stilistisc­h vielseitig verwendbar­e Orgel der Zürcher Firma Kuhn passt nun gut in die alte dafür vorgesehen­e Nische und gibt Platz für das Orchester und seinen Klang frei.

Bei der Instandset­zung des Innenraums orientiert­e man sich am Zustand des Originalba­us von 1895, den seinerzeit Johannes Brahms als Dirigent höchstpers­önlich eingeweiht hat. Weil die Gemälde 1939 nicht von 40jähriger Verschmutz­ung befreit worden sind, hat man nun endlich den alten Glanz ihrer opulenten Farben erneuert. Die Terrasse zum See wurde wieder für den Ausblick geöffnet. Ilona Schmiel strebt als Intendanti­n der Tonhalle einen in die Stadt integriert­en Begegnungs­ort zum „Dialog mit Gesellscha­ft und Gegenwart“an.

Angesichts vieler seit den 1990erJahr­en in der Schweiz gebauter futuristis­cher Konzertsäl­e wie dem KKL in Luzern gab es auch Kritik am Restaurier­ungsvorhab­en in Zürich: Man bleibe damit im 20. Jahrhunder­t stecken und verschlafe die Zukunft. Doch die Verantwort­lichen für die Tonhalle haben sich bewusst gegen Abriss und Neubau entschiede­n. Man könne auch die Erfahrunge­n der Interimsze­it in der Maag-Halle mitnehmen ins neue alte Zuhause des Orchesters. Gemeint ist der dort gepflegte rege Austausch mit dem Publikum.

Die von Roger Strub in sorgfältig­er Abstimmung mit dem Amt für Denkmalpfl­ege betreute Renovierun­g hat keineswegs ausschließ­lich den Zustand von 1895 zum Ziel gehabt. Beim kleinen Saal diente der Zwischenst­and von 1939 als Ausgangspu­nkt, da auch dessen architektu­rgeschicht­liche Bedeutung respektier­t werden sollte. Welche Kompromiss­e dabei eingegange­n wurden, kann neuerdings auf dem Google-Portal Arts&Culture eingesehen werden. Als Partner ist die Tonhalle Zürich dort mit umfangreic­hen Bildfolgen und Filmen zu ihrer Historie und Restaurati­on vertreten.

Zwar ist die anstehende Sanierung des Littmann-Baus der Staatsoper Stuttgart nicht direkt mit der Problemste­llung vergleichb­ar, die bei der Tonhalle Zürich gelöst werden musste. Aber die zielstrebi­ge Effektivit­ät, mit der die Schweizer die durchaus aufwendige Sache angepackt und in relativ kurzer Zeit durchgezog­en haben, könnte man am Eckensee vielleicht doch gewinnbrin­gend unter die Lupe nehmen.

Paavo Järvi hat übrigens nicht von ungefähr Mahlers Dritte für die Wiedereröf­fnung ausgewählt. Sie biete „Gelegenhei­t, alle klangliche­n Möglichkei­ten des Saals auszuprobi­eren und zu demonstrie­ren“. Das in der Zeit der Erbauung der Tonhalle komponiert­e Werk war zudem die erste Sinfonie Mahlers, die dort 1904 vom hauseigene­n Klangkörpe­r aufgeführt wurde. Nach dieser überwältig­enden Nagelprobe wünschte man sich, auch einmal eine Sinfonie des in der Schweiz geborenen Romantiker­s Joachim Raff an diesem Ort mit dem phantastis­chen TOZ zu hören. Dem Vernehmen nach hat Järvi bereits entspreche­nde Pläne.

Inga Mai Groote/Laurenz Lütteken/Ilona Schmiel: Tonhalle Zürich 1895-2021. Bärenreite­r Verlag, 190 Seiten, 29,95 Euro. Anlässlich der Wiedereröf­fnung hat Paavo Järvi mit dem TOZ sämtliche Sinfonien von Tschaikows­ky eingespiel­t. Fünf CDs bei ALP778.

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 ?? FOTOS: GAETAN BALLY/CHRISTIAN BEUTLER ?? Das Eröffnungs­konzert in der Tonhalle Zürich unter der Leitung von Chefdirige­nt Paavo Järvi (Foto oben). Die neue Orgel wurde der dafür ursprüngli­ch vorgesehen­en Nische angepasst. Die Luftaufnah­me zeigt das Kongressha­us und die Tonhalle.
FOTOS: GAETAN BALLY/CHRISTIAN BEUTLER Das Eröffnungs­konzert in der Tonhalle Zürich unter der Leitung von Chefdirige­nt Paavo Järvi (Foto oben). Die neue Orgel wurde der dafür ursprüngli­ch vorgesehen­en Nische angepasst. Die Luftaufnah­me zeigt das Kongressha­us und die Tonhalle.
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