Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Kremlsieg dank Kampfsportlern
Das Wahl-Wochenende in Russland wird von Betrugsvorwürfen überschattet
- Die Staatspartei „Geeintes Russland“hat die Duma-Wahlen vom Wochenende wie traditionell üblich gewonnen. Wie üblich wurde dabei heftig manipuliert.
Die Handgreiflichkeiten gingen auch am Montag weiter. Am Morgen wollte Boris Wischnewski, oppositioneller Stadtratsabgeordneter bei der Verwaltung des Petersburger Zentralbezirks, Protest gegen verdächtige Wahlergebnisse einlegen. Aber er wurde vor dem Gebäude von vier athletischen jungen Männern angerempelt, sie entrissen ihm seine Beschwerdepapiere. Ein nahe dabei stehender Polizist erklärte dem Politiker, er sei für so etwas nicht zuständig.
Die von Skandalen überschatteten Duma-Wahlen endeten wie erwartet mit einem deutlichen Sieg der Staatspartei „Geeintes Russland“. Nach Auszählung von 99,67 Prozent der abgegebenen Stimmen lag die Putinpartei mit fast 50 Prozent vorne – ein Verlust von über vier Prozent. Platz zwei belegte die Kommunistische Partei Russlands (KPRF) mit fast 19 Prozent. Die Kommunisten legten fast fünf Prozent zu. Aber bei einer Wahlbeteiligung von offiziell 51,68 Prozent hielten sich die „Einheitsrussen“offenbar in 195 der 225 Direktwahlkreise schadlos. Dort lagen ihre Kandidaten nach Angaben der Zentralen Wahlkommission (ZIK) gestern Nachmittag in Front. Und laut Interfax kann die Putinpartei hoffen, mit voraussichtlich 315 Abgeordneten ihre Zweidrittelmehrheit im dem 450Sitze-Haus zu verteidigen.
Die zwei anderen Parlamentsparteien „Liberaldemokratische Partei Russlands“(LDPR) und „Gerechtes Russland für die Wahrheit“lassen beide Federn und müssen sich mit etwas mehr als sieben Prozent zufriedengeben. Dafür überspringt die vergangenes Jahr gegründete Partei „Neue Leute“ganz knapp die FünfProzent-Hürde. Die übrigen neun teilnehmenden Parteien scheitern dagegen deutlich daran. Auch die „Jabloko“-Partei, die als letzte liberale Oppositionskraft gilt. Auch sämtliche Direktkandidaten des demokratischen Spektrums in Moskau blieben erfolglos, etwa die Feministin Aljona Popowa oder die Unabhängige Anastasia Brjuchanowa – jedoch unter fragwürdigen Umständen.
Unklar ist noch, ob einzelne Bewerber kleinerer systemtreuer Wahlvereine wie der „Bürgerplattform“oder der „Partei des Wachstums“in die Duma gelangen. Aber nach Ansicht des Moskauer Politologen Juri Korgonjuk werden sie dort ebenso wie die „Neuen Leute“kaum für Diskussionen sorgen. „Wenn sich ein Abgeordneter querstellt, wird ihm das Mandat entzogen. So wie früher Gennadi Gudkow oder Ilja Ponomarjow von SR.“
Ebenso traditionell wie die Siege der Staatspartei sind inzwischen die Manipulationen mit denen sie errungen werden. Bei der Wählerrechtsgruppe Golos gingen allein am dritten Tag der Abstimmung bis 20 Uhr 3281 Beschwerden wegen Wahlverstößen ein, davon 329, von denen Wahlbeobachter, Journalisten oder Mitglieder der Wahlkommissionen betroffen waren. Laut Golos bemühten sich die Wahlbehörden, kritische Augenzeugen mithilfe der Polizei, aber auch gewalttätiger Kampfsportler, aus den Abstimmungslokalen zu beseitigen. ZIK-Leiterin Ella Pamfilowa gab bekannt, man habe über 25 000 Stimmzettel für ungültig erklärt. Und in Petersburg, wo der Druck auf die Wahlbeobachter besonders hoch war, schloss sie eine Annullierung der Ergebnisse in sechs bis sieben Wahllokalen nicht aus.
Die Hoffnung vieler Oppositioneller, es könne in vielen Regionen zu Protestwahlen kommen, bewahrheitete sich nicht. Wenig Erfolg zeitigte auch die in den liberalen Medien vor den Wahlen als demokratische Geheimwaffe beschworene „Kluge Abstimmung“. Mit ihr wollten Nawalnys Anhänger die oppositionelle Wählerschaft in den Direktwahlkreisen für die stärksten Konkurrenten der ER-Kandidaten mobilisieren, vor allem für KPRFBewerber. Aber gerade dort schnitten die Kommunisten und andere Oppositionelle noch schlechter ab als bei der Listenwahl.
In Moskau klemmte gestern der Computer, der das Ergebnis der elektronischen Wahlen hätte ausspucken sollen. Angeblich hatten über zwei Millionen Hauptstädter im Internet abgestimmt. 20 Stunden nach der
Schließung der Wahllokale gab ZIKChefin Pamfilowa schließlich bekannt, man verschiebe die Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses auf Freitag. Oppositionelle befürchten massive digitale Manipulationen. Und der Sender TV Doschd veröffentlichte Screenshots des ZIK-Monitors: Danach machte Galina Chowanskaja, eine zurückliegende Kandidatin der Staatsmacht, bei der Auszählung der letzten 0,5 Prozent der Stimmen über sieben Prozent gut und entriss ihrer unabhängigen Konkurrentin Brjuchanowa so den Sieg.
Die Kommunisten wollen das Ergebnis der elektronischen Abstimmung in der Hauptstadt nicht anerkennen. Die Moskauer Stadtverwaltung ihrerseits gab gestern bekannt, sie werde drei von den Kommunisten beantragte Demonstrationen nicht gestatten. Anlass für das Verbot ist das ansonsten in Russland eher schlaff bekämpfte Coronavirus. „Bisher war Putins Russland eine elektorale Diktatur“, sagt Politologe Korgonjuk. „Jetzt ist es zur puren Diktatur geworden.“