Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Es gab in der Vergangenheit unüberlegte Aussagen“
AfD-Spitzenkandidat Tino Chrupalla spricht über Ehrenbekundungen an der Wolfsschanze und gesundheitspolitische Pläne der Partei
Im Bund sieht es ganz anders aus. Im Gegenteil, bei dieser Wahl ist jede Stimme für die AfD sogar eine Stimme für Rot-Grün-Rot.
Ein merkwürdiges Demokratieverständnis. Man könnte genauso gut sagen, jede Stimme für die CDU ist eine Stimme für „Weiter so“. Die Bürger wählen nicht taktisch, das denken nur die Medien immer.
Bundesweit stehen Sie in Umfragen wie festgetackert bei elf Prozent. Liegt das vielleicht an dem rechtsextremen Flügel Ihrer Partei?
Wir haben keinen rechtsextremen Flügel, das weise ich strikt zurück. Mit diesem Narrativ sollen wir klein gehalten werden. Es gab in der Vergangenheit unüberlegte Aussagen, aber wir haben uns weiterentwickelt.
Auf Platz drei der sächsischen Landesliste steht Siegbert Droese, der sich mit der Hand auf dem Herz vor dem Führerbunker an der
Wolfsschanze fotografieren ließ. Sieht so die Weiterentwicklung der AfD aus?
Er sagte, das sei zu Ehren Stauffenbergs gewesen. Das Ding ist durch, und zwar seit Jahren.
Da sind wir uns nicht so sicher. Wir könnten Ihnen jetzt ähnlich gelagerte Fälle nennen, aber die Antworten werden ähnlich sein. Lassen Sie uns über Inhalte reden. Das Median-Vermögen pro Kopf in Deutschland lag 2019 bei 29 000 Euro pro Person. Keiner dieser Menschen muss nach heutigem Recht Erbschaftsteuer zahlen, noch müsste er Vermögensteuer oder Grunderwerbsteuer zahlen. Die AfD spricht sich gegen all diese Substanzsteuern aus. Warum? Dieses Median-Vermögen ist im internationalen Vergleich sehr gering.
Und die Hälfte der Deutschen verfügt ja über noch weniger Vermögen, 41 Prozent haben weniger als umgerechnet 8500 Euro. Wir streben deshalb eine grundlegende Steuerreform an, wie einst von Paul Kirchhof vorgeschlagen.
Von keinen Substanzsteuern und einer Flat Tax, wie Kirchhof sie vorgeschlagen hat, würden vor allem Menschen mit hohen Einkommen profitieren, die auch noch viel geerbt haben. Sie besteuern den Manager mit dem gleichen Satz wie die Krankenschwester.
Das ist eine Neiddebatte. Für ein Erbe wurden schon zigfach Steuern bezahlt. Uns geht es darum, dass der viel zu stark belastete Mittelstand entlastet wird. Dass niemand zittern muss, wenn er einen Handwerksbetrieb oder eine Immobilie erbt, die er sich
aus eigener Kraft nicht leisten könnte.
Aber Sie sind doch für Kirchhof, das bedeutet einen Prozentsatz für alle. Das Kirchhofsche Modell kann man durchaus gerechter machen, indem man drei oder vier Stufen einfügt.
Laut Chef der Bundesagentur für Arbeit braucht Deutschland 400 000 Zuwanderer im Jahr, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Was halten Sie davon?
Das ist Quatsch. Wir haben 6,5 Millionen Hartz-IV-Empfänger in diesem Land. 65 Prozent der erwerbsfähigen Syrer und 44 Prozent der Afghanen beziehen Hartz IV. Warum fördern wir nicht unsere eigenen Leute?
Zusammen mit den 2,2 Millionen
Arbeitslosen, die dem Arbeitsmarkt derzeit zur Verfügung stehen, kommen wir also auf gut acht Millionen. Selbst wenn Sie jeden Einzelnen davon qualifiziert bekämen, was keiner für möglich hält, sind es immer noch nicht genug. Eine typische Lobby-Aussage, um mehr Migration hierherzubringen. Wir müssen unsere Probleme selbst klären. Wir können nicht von überall qualifiziertes Fachpersonal herholen. Das hat nichts mehr mit Entwicklungshilfe zu tun.
Nach einer Studie der OECD wird die Arbeitsbevölkerung in den kommenden zehn Jahren um vier Millionen schrumpfen.
Durch Digitalisierung und Automatisierung werden wir Hunderttausende Arbeitsplätze verlieren. Was passiert denn mit denen?
Es gibt keine technologische Revolution in der Menschheitsgeschichte, die am Ende nicht mehr Arbeit gebracht hätte.
Wir reden hier von Künstlicher Intelligenz, die Arbeitsplätze kosten wird. Und auch in der Automobilbranche und in der Energiebranche gehen Hunderttausende Jobs verloren. Wo sollen die arbeiten?
Thema Gesundheit. Die AfD spricht im Wahlprogramm vom Kliniksterben. Gibt es das überhaupt?
Das Krankenhaus hier in Weißwasser steht kurz vor der Schließung, wenn es nicht finanziell unterstützt wird. Dann hat man hier im Umkreis von 50 Kilometern kein Krankenhaus mehr. Das ist das beste Beispiel.
Wenn wir in die Statistik schauen, sind in den letzten zehn Jahren 150 Kliniken umgewandelt und ein paar wenige auch geschlossen worden – von 2000. Ist das ein Kliniksterben? Vor zwanzig Jahren hatten wir 2240 Krankenhäuser, jetzt sind es 1914. Das ist eine Abnahme von rund 15 Prozent. Nicht gerade wenig, oder?
Es ist ja Absicht, die Zahl der Kliniken und Betten zu reduzieren. Sie sind im europäischen Vergleich in Deutschland einfach viel zu hoch … Wir reden über Krankenhausauslastung im Zusammenhang mit Corona, und Sie sagen, wir hätten zu viele Betten? Die Reduzierung schafft Probleme gerade im ländlichen Raum. Die Kliniken müssen erhalten werden.
Sie meinen also, dass wir nicht zu viele Betten in Deutschland haben? Nein, haben wir nicht. Wichtiger ist überdies: Wir brauchen Personal.
Sollten wir wirklich ein System aufrechterhalten, für das wir nicht genug Personal haben, oder wäre es vielleicht besser eines zu haben, wo weniger Kliniken umso erfolgreicher arbeiten? Die Niederlande oder Dänemark haben vorgemacht, wie das geht.
Wie sollen weniger Kliniken mit wenig Personal erfolgreich arbeiten, wenn die Auslastung der Krankenhäuser zum wichtigsten Parameter des Gesundheitssystems gemacht wird? Wir brauchen eine Trägervielfalt, aber private Träger müssen auf 60 Prozent begrenzt werden.
Sie glauben, dass staatliche Kliniken eine bessere Arbeit leisten als private?
Es geht mir nicht um die bessere Arbeit. Krankenhäuser sind Daseinsvorsorge. Der Staat muss die Bereitstellung ausreichender Leistungen gewähren.
Warum wollen Sie denn dann Privatisierungen verhindern?
Ich halte es für einen Skandal, dass zum Beispiel die Rhön-Kliniken Dividenden ausschütten aus Geldern, die der Beitragszahler zahlt. Das hat doch nichts mit Wettbewerb zu tun. Das ist unverantwortlich.
Aber ein Arzt ist doch auch ein privater Unternehmer.
Ich habe auch nichts dagegen, dass es private Unternehmen gibt. Ich habe nur etwas dagegen, dass diese Unternehmen Dividenden aus Beitragsgeldern auszahlen an Aktionäre. Das Gesundheitswesen muss der Staat von der Profitlogik ausnehmen.
Vor allem aber zahlt der Staat zu wenig. Sechs Milliarden Euro betrug 2019 der Investitionsbedarf der Krankenhäuser, drei wurden von den Ländern gezahlt. In den vergangenen zehn Jahren sind 30 Milliarden Euro zu wenig gezahlt worden. Die fehlen den Krankenhäusern an allen Ecken und Enden. Daran sind nicht die Fallpauschalen schuld, die die AfD abschaffen will.
Ja, der Staat muss mehr in die Infrastruktur der Gesundheitsversorgung investieren. Davon unabhängig müssen wir die Fallpauschalen, die Kliniksterben im ländlichen Raum beschleunigen, durch Individualbudgets ersetzen. Die Realität des jeweiligen Standorts muss berücksichtigt werden.
Was ist denn mit den privaten Krankenversicherungen?
Die sollen im Wettbewerb zu den gesetzlichen Krankenkassen stehen. Eine Bürgerversicherung würde zu Nivellierung auf niedrigem Niveau führen.
Arzneimittel werden von privaten Unternehmen hergestellt, die damit Gewinne machen.
Natürlich sollen die damit Gewinne machen.
Ihre Argumentation ist schon ein bisschen widersprüchlich, oder? Nein, ist sie nicht. Für mich gehört Infrastruktur in die Hand des Staates. Ich würde nicht alles privatisieren.