Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Auf der Suche nach der neuen Stadt

Das Ladensterb­en zwingt Kommunen zum Umdenken – Mischnutzu­ngen sollen die City am Leben halten

- Von Wolfgang Mulke

- Lange Fronten mit Folien beklebter Scheiben – das Einkaufsze­ntrum Boulevard auf der Berliner Einkaufsme­ile Schoßstraß­e bieten teilweise einen tristen Anblick. Die Besucher laufen an vielen leerstehen­den Räumen vorbei. Nur die großen Ketten und Fachmärkte üben eine große Anziehungs­kraft aus. Der Rückzug des Einzelhand­els aus der Innenstadt wird hier offensicht­lich. Noch düsterer sieht es in vielen kleineren und mittleren Städte – auch in Baden-Württember­g und Bayern aus. Vor allem Modegeschä­fte hat es in den vergangene­n Monaten in Friedrichs­hafen am Bodensee, im oberschwäb­ischen Bad Saulgau, auf der Ostalb, in Ulm, Kempten und im Schwarzwal­d getroffen. In manchen Orten herrscht die Tristesse des Leerstands. Wo keine Geschäfte geöffnet sind, geht auch niemand gerne hin. Das ist landauf, landab immer häufiger der Fall.

„Studien gehen davon aus, dass in den nächsten drei Jahren zwischen 80 000 und 120 000 Geschäfte aufgeben müssen“, sagt Michael Reink Standortex­perte des Handelsver­bands (HDE). Schon im vergangene­n Jahrzehnt haben fast 40 000 Inhaber ihren Laden geschlosse­n. Vor allem kleine Fachgeschä­fte halten nicht mehr mit. Die Pandemie hat zudem einen Boom beim Onlinehand­el ausgelöst. Die Kundschaft mied die Innenstädt­e. Noch rollt die Pleitewell­e nicht in über die Zentren. Doch die Lage ist prekär. Viele Geschäfte schieben Reink zufolge noch Mietrückst­ände aus dem vergangene­n Jahr vor sich her. Es fehlt das Geld für Investitio­nen in ein attraktive­s Konsumumfe­ld.

Die Fachleute glauben nicht mehr daran, dass der Handel die Innenstädt­e vor der Ödnis retten kann. Da müssen andere Lösungen her, weiß auch der Chef des Deutschen Städtetags, Helmut Dedy. „Indem wir die Innenstädt­e neu denken, können wir die Strahlkraf­t der Stadtzentr­en stärken“, hofft er. Gute Beispiele für die Reanimieru­ng von Zentren gibt es in Deutschlan­d schon. So hat sich die Stadt Siegen schon im vergangene­n Jahrzehnt um mehr Leben in der City bemüht. Der zuvor zugunsten von Parkraum in die Tiefe versenkte

Fluss wurde wieder ans Licht geholt. Attraktive Flächen locken Besucher an, die Universitä­t zog direkt in die Innenstadt.

Auch Dedy sieht im Umbau der Innenstädt­e eine Chance. „Wir müssen den Handel neu kombiniere­n, etwa mit Werkstätte­n für Handwerker, Co-Working-Spaces oder regionalen Händlern für nachhaltig­e Waren“, sagt er, „ auch Schulen, Kitas, Bibliothek­en und Ùniversitä­ten können die Stadtzentr­en beleben.“Doch über Nacht ist dieser Wandel nicht zu schaffen. Denn die notwendige Stadtplanu­ng mit einer umfangreic­hen Beteiligun­g der Bürger kostet Zeit. Und auch die Immobilien­preise stehen einer Belebung im Weg. Das Mietniveau dürfe nicht nur auf Menschen

mit dem ganz großen Geldbeutel ausgericht­et sein“, fordert Dedy: „Mieten runter, Menschen rein.“

Praktische Beispiele für eine erfolgreic­he Wiederbele­bung gibt es schon. Bremerhave­n hat zum Beispiel ein ehemaliges Karstadtha­us gekauft. Nun soll der „faule Zahn“der Innenstadt, wie es Oberbürger­meister Melf Grantz nennt, gezogen und durch eine attraktive öffentlich­e Anlage mit einer Mischnutzu­ng ersetzt werden. In Paris sichert eine von der Stadt geförderte Organisati­on, dass in leerstehen­de Geschäfte nur passende Einzelhänd­ler einziehen, die bei einer erfolgreic­hen Ansiedlung ein Vorkaufsre­cht für den Laden erhalten. Im oberschwäb­ischen Oberzentru­m Ravensburg betreibt die Stadt aktives Leerstands­management und hat einen Wettbewerb zur Belebung der Innenstadt ausgelobt.

„Die Mittelstäd­te sind am stärksten betroffen“, erläutert Reink, „dort müssen für die Innenstädt­e neue Ideen entwickelt werden.“Denn diese Kommunen werden vom Zeitgeist im Handel besonders betroffen. Das Einzugsgeb­iet des Handels dort ist in der Regel die ländliche Umgebung. Doch das Angebot ist aufgrund der vergleichs­weise geringen Zahl von Konsumente­n eingeschrä­nkt. Die Kunden akzeptiere­n diese Einschränk­ungen aber nicht und bestellen die gewünschte Ware entweder im Internet oder fahren gleich in die nächste Großstadt zum

Shoppen. Die Folgen sind gravierend. „Man muss viele Fußgängerz­onen verkürzen“, glaubt Reink, „da kommt auf die Stadtplanu­ng eine hohe Verantwort­ung zu“.

Allein werden die Kommunen diese Aufgabe nicht meistern. Der Bund hat zwar zunächst ein Förderprog­ramm von 250 Millionen Euro für Modellproj­ekte zur Belebung der Innenstädt­e aufgelegt. Doch das reicht nach Einschätzu­ng des Städtetags bei Weitem nicht aus. „Wir brauchen 500 Millionen Euro jährlich über eine Laufzeit von fünf Jahren“, fordert Dedy. Die neue Bundesregi­erung müsse aus dem Sofortprog­ramm eine verlässlic­he Unterstütz­ung über einen längeren Zeitraum machen.

 ?? FOTO: ARNULF HETTRICH/IMAGO ?? Sonderverk­auf bei der Modeboutiq­ue Nevi in Friedrichs­hafen am Bodensee im April: Vor allem Modegeschä­fte spüren die veränderte­n Kaufgewohn­heiten der Kunden, die Pandemie hat den Trend zum Online-Shopping noch einmal befeuert.
FOTO: ARNULF HETTRICH/IMAGO Sonderverk­auf bei der Modeboutiq­ue Nevi in Friedrichs­hafen am Bodensee im April: Vor allem Modegeschä­fte spüren die veränderte­n Kaufgewohn­heiten der Kunden, die Pandemie hat den Trend zum Online-Shopping noch einmal befeuert.

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