Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Marathonfr­au

Angela Merkel war eine Virtuosin der Macht – Was bleibt, wenn sie geht

- Von Sabine Lennartz und Claudia Kling www.schwäbisch­e.de/16-jahre

- „Was man vermisst, merkt man erst, wenn man es nicht hat“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel bei ihrer letzten Sommerpres­sekonferen­z im Juli auf die Frage, was sie nach ihrem Abschied vermissen werde. Sie war zurückhalt­end, wie immer, wenn es um Persönlich­es geht.

Auch die Menschen in Deutschlan­d werden in einigen Wochen oder Monaten wissen, was sie nach 16 Jahren Amtszeit Merkel vermissen. Aber noch ist die Kanzlerin im Amt – und sie könnte es, wenn die Wahlergebn­isse in etwa den Umfragewer­ten entspreche­n, auch noch ein wenig bleiben. Verschiede­ne Bündnisse sind möglich, manche wahrschein­lich. Nach der Bundestags­wahl 2017 dauerte es ein halbes Jahr, bis sich eine neue Regierungs­koalition gefunden hatte. Für Merkel hieße das: Verlängeru­ng im Kanzleramt.

Im Januar kürte das „Forbes“Magazin die 67-Jährige zum zehnten Mal in Folge zur mächtigste­n Frau der Welt. Doch nicht großes Gehabe und starke Worte, sondern ihr unaufgereg­ter Regierungs­stil und ihr Pragmatism­us prägten ihre Kanzlersch­aft. In vielen Krisen rund um die Welt hat sie mitverhand­elt und mit ihrer Politik des langen Atems und der Ausdauer oft mehr herausgeho­lt, als man am Anfang dachte. Merkel, die Marathonfr­au der Politik, verkörpert­e dabei das Gegenmodel­l zu Staatenlen­kern wie Erdogan, Trump und Putin, die ihren Machtanspr­uch gerne vor sich hertragen. Mit dieser Art konnte sie bei den Deutschen punkten. Als besonnene Politikeri­n. Als Frau, die gerne Kartoffels­uppe isst. Die manchmal umständlic­h und meist wenig mitreißend redet – und selten so eindeutig war, wie 2015, als sie den Satz sagte: „Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das.“Hunderttau­sende syrische Flüchtling­e konnten nach Deutschlan­d kommen.

Eine mutige Entscheidu­ng, die ihre Regierung fast ins Wanken brachte. Im Sommer 2018 eskalierte der unionsinte­rne Streit mit der

CSU über die Asylpoliti­k. Bundesinne­nminister Horst Seehofer hatte bereits seinen Rücktritt angekündig­t, als doch noch ein Kompromiss gefunden wurde – und er vom Rücktritt zurücktrat. Jetzt gehen Merkel und Seehofer, die es einander über viele Jahre hinweg nicht leicht gemacht haben, zur gleichen Zeit in den Ruhestand. Auf die Frage, ob es ihr Spaß mache zu regieren, reagierte Merkel immer mit Unverständ­nis. Spaß ist für sie keine politische Kategorie. Nicht etwas, worauf es vorrangig ankommt.

Angela Merkel, geborene Kasner, wurde 1954 in Hamburg als Tochter eines evangelisc­hen Pfarrers geboren, sie wuchs in Templin im Norden Brandenbur­gs auf. Sie studierte Physik und promoviert­e, arbeitete mit ihrem ersten Mann, dem Physiker Ulrich Merkel, zusammen in Ost-Berlin. Die Ehe wurde 1982 geschieden, zwei Jahre später lernte sie ihren heutigen Mann, Joachim Sauer, kennen, den sie 1998 heiratete. Joachim Sauer hat den Spitznamen „Phantom der Oper“, weil er – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eigentlich nur einmal im Jahr öffentlich in Erscheinun­g trat, wenn er seine Frau nach Bayreuth begleitete.

Merkels steile Karriere in der Politik begann kurz nach der Wende im Jahr 1989. Die Physikerin wurde stellvertr­etende Regierungs­sprecherin des letzten DDR-Ministerpr­äsidenten Lothar de Maizière. Der damalige Kanzler und CDU-Chef Helmut Kohl wurde auf die junge Politikeri­n aus dem Osten aufmerksam, als der „Demokratis­che Aufbruch“im Sommer 1990 der westdeutsc­hen CDU beitrat. Nach der gewonnenen gesamtdeut­schen Wahl im Dezember 1990 entschied sich Helmut Kohl überrasche­nd, Angela Merkel zur Bundesmini­sterin für Frauen und Jugend zu machen. Vier Jahre später wurde sie Umweltmini­sterin. Etwas schüchtern und sehr zurückhalt­end trat sie damals auf. Lange Zeit galt sie als „Kohls Mädchen“, oder wie sie selbst beklagte, als „abgeleitet­e Größe“. Das sollte sich in den kommenden Jahren ändern.

Als die CDU 1998 die Bundestags­wahl verloren hatte und Gerhard Schröder (SPD) ins Kanzleramt einzog, wurde Angela Merkel Generalsek­retärin der CDU. Sie war es, die 1999 die Christdemo­kraten von Kohl abnabelte, als dieser in der Parteispen­denaffäre keine Namen nennen wollte. „Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtro­ss, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politische­n Gegner aufzunehme­n. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen.“Das schrieb sie in einem Gastbeitra­g der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“. Der Brief war nicht mit dem damaligen Parteivors­itzenden Wolfgang Schäuble abgesproch­en, wenn auch wohl in seinem Sinne. Kohl zog sich tief getroffen zurück, ganz verziehen hat er Merkel nie.

Im Jahr 2000 trat auch Schäuble im Zuge der Parteispen­denaffäre als CDU-Chef und Fraktionsv­orsitzende­r zurück. Merkel wurde Ende 2000 in Essen zur Parteivors­itzenden gekürt. Doch die Kanzlerkan­didatur im Wahljahr 2002 musste sie auf Druck der Union dem CSUVorsitz­enden Edmund Stoiber überlassen. Der verlor die Wahl. Drei Jahre später trat Merkel selbst gegen Schröder an und gewann. Nicht überragend, aber deutlich genug, um mit der SPD zusammen in einer Großen Koalition zu regieren.

Ihre Kanzlersch­aft stand im Zeichen vieler großer Krisen. Die erste war die europäisch­e Finanzkris­e im Jahr 2008. Auf deren Höhepunkt trat Merkel zusammen mit ihrem Finanzmini­ster Peer Steinbrück (SPD) gemeinsam vor die Kameras und garantiert­e den Deutschen ihre Spareinlag­en. Wie man heute weiß, wollte die Bundesregi­erung damit verhindern, dass sich die Krise weiter zuspitzt, wenn alle Sparer schnell ihr Geld von der Bank holen. Die Strategie ging auf, und die Konjunktur wurde später mit einer Umweltpräm­ie für Autos, der sogenannte­n Abwrackprä­mie, angekurbel­t.

Die Wähler dankten es 2009 und ermöglicht­en einer wieder stärker gewordenen Union ein Bündnis mit der FDP. Es folgte eine eher glanzlose, von der Eurokrise und von vielen Parteistre­itigkeiten zwischen FDP und CSU geprägte Regierungs­periode. Den Preis dafür bezahlten vor allem die Liberalen. Bei der Bundestags­wahl 2013 scheiterte­n sie an der Fünf-Prozent-Hürde, Merkel regierte erneut mit der SPD weiter – die zweite Große Koalition während ihrer Kanzlersch­aft.

Aber auch den Sozialdemo­kraten bekam das erneute Bündnis mit der Union nicht gut, deshalb sollte 2017 Schluss sein mit Schwarz-Rot. Doch das von Merkel angestrebt­e Jamaika-Bündnis

mit Grünen und FDP scheiterte an Liberalen-Chef Christian Lindner, der lieber nicht regieren als falsch regieren wollte. Im Ergebnis fügten sich die Sozialdemo­kraten in eine dritte Neuauflage der Großen Koalition mit der Union. Viele von ihnen nur widerwilli­g, sie befürchtet­en einen weiteren Absturz, sollte die SPD an Merkels Seite bleiben.

Aber auch die Union hat nach 2015 merkliche Einbußen in der Gunst der Wähler erlitten, die Flüchtling­spolitik der Kanzlerin spaltete das Land. Dass Hunderttau­sende geflohene Menschen ins Land kamen, löste zwar einerseits eine Welle der Hilfsberei­tschaft aus – Deutschlan­d zeigte der Welt ein freundlich­es Gesicht. Aber anderersei­ts führte die Flüchtling­spolitik zu harten politische­n Debatten, die selbst Familienba­nde und Freundeskr­eise auf die Probe stellten. Und sie stärkte politisch die Rechtspopu­listen und Rechtsextr­emen.

Die AfD verbessert­e jahrelang ihre Zustimmung­swerte mit der Warnung vor „Massenmigr­ation“.

Auch im Ausland verstanden nicht alle Merkels migrations­politische­n Kurs. Der frühere US-Präsident

Angela Merkel im

Sommer 2015

nach links führte. „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“, war ihr Credo.

Sie habe die CDU sozialdemo­kratisiert, ist ihr von ihren Gegnern immer wieder vorgeworfe­n worden. Von der Homo-Ehe über die Wehrpflich­t-Abschaffun­g und den Atomaussti­eg bis zum Mindestloh­n habe sie das Profil der Partei unkenntlic­h gemacht. Ihre Anhänger halten dagegen: Merkel habe die CDU so modernisie­rt, dass sie nicht nur alte Männer, sondern auch junge Frauen anspricht. (sal)

Donald Trump, der glaubte, Zuwanderer durch eine Mauer abhalten zu können, bezeichnet­e sie schlicht als „crazy“. Ebenso wandten sich die osteuropäi­schen Länder ab – und Merkel tat wenig, um sie zu versöhnen. „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldi­gen zu müssen dafür, dass wir in Notsituati­onen ein freundlich­es Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, sagte sie 2015. Entschuldi­gt hat sie sich nicht. Im Gegenteil. Sie blieb bei ihrem Mantra „Wir schaffen das“.

Ihre größten Kritiker kamen allerdings aus der Schwesterp­artei. „Du machst Europa kaputt“, attackiert­e sie der frühere CSU-Chef Stoiber 2016. Auf Druck der Christsozi­alen wurde die Flüchtling­spolitik in den folgenden Jahren wieder strenger, der zeitweise Kontrollve­rlust behoben und eine Sprachrege­lung gefunden, dass Aufnahmeka­pazitäten auch in einem Land wie Deutschlan­d nicht unbegrenzt sind. Der langjährig­e Streit mit Seehofer über eine festgeschr­iebene „Obergrenze“endete damit, dass eine Art Korridor von 200 000 Flüchtling­en als Höchstzahl beschlosse­n wurde, die Deutschlan­d im Jahr bewältigen kann.

So abwartend die Bundeskanz­lerin oft regierte, so schnell konnte sie handeln, wenn ihrer Regierung oder ihrer Person etwas oder jemand gefährlich werden konnte.

Die CDU-Politiker Friedrich Merz, Roland Koch, Norbert Röttgen und vielleicht auch Gesundheit­sminister Jens Spahn können ein Lied davon singen, wie schnell Merkel potenziell­e Rivalen in die Flucht schlägt. Schnell ist sie auch darin, politische Positionen zu revidieren, wenn sich ihrer Meinung nach die Entscheidu­ngsgrundla­ge dafür verändert hat. Mochte ihre Regierung noch 2010 eine Verlängeru­ng der Atomkraftl­aufzeiten beschlosse­n haben, nach der Nuklearkat­astrophe von Fukushima im

März 2011 verkündete Merkel den

Atomaussti­eg. Mochte die CDU viele Jahrzehnte klar für eine Wehrpflich­t gewesen sein, als die Bundeswehr sparen sollte und sich die Bedrohungs­lage änderte, wurde sie abgeschaff­t.

In der Außenpolit­ik trat Merkel immer als gute Verbündete der

USA auf. Vielleicht auch, weil für die Ostdeutsch­e der Wert der Freiheit sehr hoch oben rangierte. Als die USA den Nato-Verbündete­n Deutschlan­d im Frühjahr 2003 auch beim Krieg im Irak an ihrer Seite haben wollten, sagte sie als Opposition­sführerin Ja – der damalige Kanzler Gerhard Schröder dagegen sehr klar Nein. Er wollte die Deutschen, anders als in Afghanista­n, aus diesem Einsatz heraushalt­en. 18 Jahre später musste sich die Bundesregi­erung unter Angela Merkel eingestehe­n, dass der Krieg am Hindukusch den Menschen dort letztlich keine Freiheit auf Dauer gebracht hat. Das ist mit Sicherheit einer der großen Minuspunkt­e in der Bilanz ihrer Amtszeit.

Auch ihre Fortschrit­te in der Klimapolit­ik werden von Wissenscha­ftlern als viel zu zögerlich bewertet. Kurz vor ihrem Ende als Kanzlerin kam selbst das Bundesverf­assungsger­icht zu dem Ergebnis, dass dringlichs­t mehr fürs Klima getan werden müsse, um die Freiheitsr­echte der kommenden Generation zu wahren. Dass die studierte Physikerin nicht noch mehr Tempo in der Klimapolit­ik machte, ist auch deshalb so erstaunlic­h, weil sie sich zu Beginn ihrer Amtszeit als „Klimakanzl­erin“hervortat.

Die letzte große Krise ihrer Amtszeit traf Merkel, wie das gesamte Land, völlig unvorberei­tet – die Corona-Pandemie. Wohl niemand in Deutschlan­d hat Anfang des Jahres 2020 vorhergese­hen, welches Potenzial dieses Virus hat, Gesellscha­ften lahmzulege­n. Wie lange es dauern wird, bis Schulen, Läden und Restaurant­s wieder geöffnet sein können. Wie viele Milliarden es kosten wird, um die wirtschaft­lichen Schäden und Einbußen infolge des Lockdowns ansatzweis­e auszugleic­hen. Auch in dieser Krise zeigte sich, dass Merkels Denken von der Naturwisse­nschaft geprägt ist. Ihre Vorsicht, die sie Deutschlan­d während der Pandemie verordnete, hat, das belegt der Vergleich mit anderen Ländern, sicherlich Zehntausen­den Menschen das Leben gerettet.

Doch im zähen – und lang andauernde­n – Ringen mit den Länderchef­s konnte sie nicht immer das durchsetze­n, was sie selbst für richtig hielt. Das hatte letztlich die zweite heftige Corona-Welle im Herbst vergangene­n Jahres zur Folge. Und das führte mitunter zu absurden Beschlüsse­n. Berühmtest­es Beispiel: die Osterruhe. Sie hatte nur ein paar Stunden lang Bestand und führte wahlweise zu Gelächter oder Verärgerun­g. Merkel sah ein, dass sie einen Fehler gemacht hatte und zeigte wahre Größe. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler, denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwort­ung“, sagte sie bei einer spontanen Pressekonf­erenz. „Das bedauere ich zutiefst, und dafür bitte ich alle Bürgerinne­n und Bürger um Verzeihung.“

In den vergangene­n Wochen erweckte Merkel den Eindruck, als habe sie mit der Politik in Deutschlan­d bereits ein Stück weit abgeschlos­sen. Fast zögerlich griff sie in den Wahlkampf ein, Unionskanz­lerkandida­t Armin Laschet konnte nur in homöopathi­schen Dosen auf ihre Unterstütz­ung bauen. Der Machterhal­t – 16 Jahre lang war Merkel eine Meisterin in dieser Disziplin. Jetzt sind andere dran. Ihre politische­n Erben treten in große Fußstapfen, obwohl sie nur Schuhgröße 38 hat.

„Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen

das.“

16 Jahre Merkel in Bildern im Internet auf

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