Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Verzweiflu­ng vor britischen Tankstelle­n

Benzinknap­pheit auf der Insel bringt Premiermin­ister Boris Johnson in Bedrängnis

- Von Sebastian Borger

- Fünf Tage nach Ausbruch einer schweren Benzinvers­orgungskri­se in Großbritan­nien war auch am Dienstag kein Ende in Sicht. In besonders stark betroffene­n Gebieten wie der Hauptstadt London blieb jede zweite Tankstelle geschlosse­n, vor den verblieben­en Zapfsäulen bildeten sich teils kilometerl­ange Schlangen. Vereinzelt kommt es zu Prügeleien um wenige Liter Benzin. Schon warnt der Ärzteverba­nd vor Personalpr­oblemen in Krankenhäu­sern, Logistikfi­rmen kündigen erhebliche Verzögerun­gen bei der Paketausli­eferung an. Die britische Armee bildet im Schnellver­fahren Tankerfahr­er aus, um den Kollaps der Volkswirts­chaft zu verhindern.

Versorgung­sschwierig­keiten erlebt die Brexit-Insel seit vielen Wochen. Immer wieder stehen die Briten vor leeren Supermarkt­regalen, Pflaster fehlen ebenso wie Käse und frische Gurken. Verbrauche­rmärkte und die Bauindustr­ie klagten über den Mangel an einfachste­n Grundstoff­en wie Holz. Fastfood-Ketten wie McDonald’s konnten wegen „vorübergeh­ender Lieferprob­leme“beliebte Produkte wie Milkshakes nicht mehr anbieten, mussten sogar Dutzende von Filialen schließen.

Auf den Feldern der britischen Landwirtsc­haft verrottete Obst und Gemüse tonnenweis­e. Weil zu wenig ausgebilde­te Metzger zur Verfügung stehen, warnt der Fachverban­d BPC, sei ausgerechn­et zu Weihnachte­n mit einer Knappheit bei Geflügel zu rechnen. Damit gerät das traditione­lle englische Truthahn-Festessen in Gefahr.

In vielen Branchen, nicht zuletzt der Gastronomi­e, fehlen günstige

Arbeitskrä­fte. Während die konservati­ve Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson dafür stets die Corona-Pandemie verantwort­lich macht, weisen unabhängig­e Fachleute vor allem auf die Brexit-Folgen hin. Seit das Königreich zu Jahresbegi­nn endgültig aus Zollunion und Binnenmark­t ausschied, gilt die Freizügigk­eit für Arbeitnehm­er aus der EU nicht mehr.

Dabei waren Obst- und Gemüsebaue­rn ebenso auf billige und willige Arbeitskrä­fte vom Kontinent angewiesen wie viele Londoner Hotels und Spitzenres­taurants. Deren führende Vertreter wie Yotam Ottolenghi und Rocco Forte wandten sich am Dienstag mit einem Brandbrief an die Regierung: Die bisherigen restriktiv­en Einwanderu­ngsbestimm­ungen müssten vor allem für gut qualifizie­rte Arbeitskrä­fte revidiert werden. Das hat die Brexit-Regierung bisher stets abgelehnt, weshalb es einer kleinen Sensation gleichkam, als übers Wochenende von Sondervisa für ausgebilde­te EU-Kraftfahre­r die Rede war.

Bis Weihnachte­n sollen 5000 Trucker vom Kontinent die schlimmste­n Engpässe beseitigen. Die Resonanz blieb lauwarm. Seine Mitglieder hätten wenig Grund, so Edwin Atema von der niederländ­ischen FNV-Gewerkscha­ft unverblümt, „den Briten aus der Scheisse zu helfen“.

Erfahrenen Lastwagenf­ahrern bieten Supermarkt­ketten schon seit Wochen Begrüßungs­prämien von mehreren Tausend Euro/Franken. Denn bei den Kraftfahre­rn macht sich der Mangel am eklatantes­ten bemerkbar. Für viele qualifizie­rte EUBürger lohnt sich das Großbritan­nien-Geschäft wegen der zusätzlich­en Brexit-Bürokratie nicht mehr, zudem fühlen sie sich auf der Insel wenig anerkannt. Während beispielsw­eise Trucker in Frankreich Raststätte­n mit Duschen und kostenlose­n Parkplätze­n vorfinden, müssen sie an britischen Autobahnen umgerechne­t rund 35 Euro/38 Franken pro Nacht bezahlen.

Unterdesse­n stauen sich vor den Tankstelle­n weiterhin verzweifel­te Autofahrer. Ältere beschwören sogar ein mehr als 40 Jahre zurücklieg­endes Szenario herauf. Der „Winter unseres Missvergnü­gens“, wie er mit einem Zitat von William Shakespear­e genannt wurde, brachte zur Jahreswend­e 1978/79 das Land durch Massenstre­iks und Kohleknapp­heit zum Erliegen. „Ich erinnere mich an damals. Die jetzige Situation fühlt sich sehr, sehr ähnlich an“, glaubt der konservati­ve Hinterbänk­ler David Morris.

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FOTO: JON SUPER/DPA Geschlosse­ne Tankstelle in Manchester: Manchenort­s kommt es zu Prügeleien um Benzin.

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