Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die Frage nach der Schuld der Prüfer
Hinterbliebene des Dammbruchs von Brumadinho verklagen TÜV Süd – Firma hatte Deich als sicher zertifiziert
- Ein schreckliches Unglück. So nennt Florian Stork, ChefJustiziar des Dienstleistungsunternehmens TÜV Süd, um was es im großen Münchner Gerichtssaal an der Justizvollzugsanstalt Stadelheim am Dienstag geht. Der Jurist spricht den Angehörigen sein Beileid aus. „Wir wollen das Leid überhaupt nicht infrage stellen“, sagt Stork. Allerdings: Das deutsche Prüfunternehmen sehe „keine rechtliche Verantwortung“für die Katastrophe, zu der es am 25. Januar 2019 im brasilianischen Brumadinho gekommen ist.
Der Bruch des Staudamms einer Eisenerzmine hatte eine gewaltige Schlammlawine ausgelöst, die Teile des Ortes zerstörte. 270 Menschen kamen ums Leben. Nur wenige Monate zuvor war der Damm vom brasilianischen Ableger von TÜV Süd untersucht und als sicher zertifiziert worden. Am Dienstag nun sitzen sich Vertreter aus Brumadinho, im Bundesstaat Minas Gervais gelegen, und TÜV-Anwälte im Gerichtssaal in diesem zivilen Musterprozess gegenüber. Das Verfahren wird als bedeutsam und exemplarisch angesehen, denn hier wird über ziemliches Neuland verhandelt: Kann ein Unternehmen für Umweltkrimininalität zur Verantwortung gezogen werden, die eine Tochterfirma im Ausland begangen hat? Und dies ausgerechnet beim TÜV – einem Unternehmen, das wie kein anderes für Genauigkeit und Sachkunde steht.
Avimar Barcelos ist der Bürgermeister von Brumadinho, und er ist dafür extra nach München gereist.
Ebenso wie zwei Brüder und der Ehemann der damals 30-jährigen Ingenieurin Izabela Barroso – sie ist von der Lawine getötet worden. „Niemand kann Izabela zurückbringen“, sagt der Bürgermeister vor Gericht. „Doch ich bin empört, dass der TÜV sich weigert, Verantwortung zu übernehmen.“Barcelos ist ein jüngerer Mann und erzählt, dass seine Ort weiterhin leide und in großen Teilen zerstört sei. „Die sollen kommen und sich anschauen, was sie angerichtet haben.“Immer wieder spricht er von „unsere kleinen Gemeinde“.
Es war am Mittag, als der oberhalb des Betriebes und der Ortschaft gelegene Damm brach. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 70 Kilometern in der Stunde rauschten gewaltige Massen des giftigen Schlammes aus dem Erzabbau in einer Lawine nach unten, laut Experten waren es 11,7 Millionen Kubikmeter. Viele Angestellte, auch Izabela Barroso, saßen zu dieser Zeit in der Kantine beim Essen. Das Gebäude wurde völlig zerstört, die Menschen getötet, ebenso wie bei vielen weiteren Häusern der Ortschaft. Über Monate wurde nach Opfern gesucht, bis jetzt fand man 259 Leichen, elf Menschen gelten weiterhin als vermisst.
Die Vorsitzende Richterin des Landgerichts Ingrid Henn versucht, eine Güteverhandlung zu erreichen, bei der sich Kläger und Beklagte auf Entschädigungssummen einigen. Rechtsanwalt Jan Erik Spangenberg, der zusammen mit einem internationalen Anwaltskonsortium die Kläger vertritt, ist grundsätzlich bereit dazu. Für die Gemeinde werden umgerechnet 70 000 Euro verlangt, für die Angehörigen der Getöteten zwischen 15 000 und 30 000. Das könnte der TÜV Süd problemlos aufbringen. Allerdings: Spangenberg und seine Anwaltspartner vertreten nach eigenen Angaben weitere 1200 Angehörige.
Für das Unternehmen würden dann Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe im Raum stehen – das könnte ein Unternehmen wie den TÜV Süd durchaus ruinieren.
Doch neben dem TÜV gibt es ja vor allem auch den Betreiber der Mine, der in der Verantwortung steht. Dabei handelt es sich um den brasilianischen Mega-Bergwerkskonzern Vale. Der TÜV stellt sich auf den Standpunkt, dass sein Gutachten „in Ordnung“gewesen sei, meint der Anwalt Philipp Hanfland, der das Unternehmen vertritt. Es gebe keinen „Nachweis missbräuchlichen Verhaltens“und keinen „Kausalzusammenhang“. Der Opfer-Vertreter hingegen verweist auf Vernehmungen in Brasilien von dortigen TÜV-Mitarbeitern. Diese hatten angegeben, vom ValeKonzern unter Druck gesetzt worden zu sein, den Damm zu genehmigen. Spangenberg benennt viele technische Details, die belegen sollen, dass nicht sauber geprüft wurde.
Auf keinen gemeinsamen Nenner kommt man auch bei der Frage, ob der Vale-Konzern, der TÜV oder beide zur Entschädigung verpflichtet sind – und was bisher aufgebracht wurde und noch ansteht. 5,8 Milliarden Euro stehen im Raum, die der Vale-Konzern versprochen haben soll. Das meiste davon gehe aber in den Straßenbau, der wiederum vor allem den Bergbau-Konzernen nutzt, kritisiert Jan Erik Spangenberg. Es solle etwa eine 100 Kilometer lange Ringautobahn gebaut werden. In Brasilien stehe dieses Projekt massiv in der Kritik, denn dadurch komme es zu 4000 Enteignungen, 20 000 Menschen seien betroffen. „Unter dem Deckmantel der Kompensation für eine der größten Umweltkatastrophen“, sagt Spangenberg, verursache Vale weitere Umweltschäden.
„Von den Angehörigen aber hat noch niemand irgendeine Entschädigung erhalten“, klagt der Kläger-Vertreter weiter. TÜV-Anwalt Hanfland widerspricht: Die Auszahlung werde vorbereitet, im kommenden Jahr werde Geld fließen, „eine gigantische Summe“. Und zwar auch an die Angehörigen. Dies bezweifeln die Kläger. Spangenberg meint, dass mit Vale viele Dinge noch nicht juristisch geklärt seien: „Da müsste man noch Jahre und Jahrzehnte warten.“Prozesse über Umweltkatastrophen würden in Brasilien äußerst ineffizient geführt. Die Kläger hätten in ihrem Heimatland keinen angemessenen Zugang zum Recht. Deshalb hätte man in München geklagt, am Stammsitz von TÜV Süd. Die Gemeinde Brumadinho liege weiterhin am Boden. Von den ursprünglich 15 Meter hohen Schlammbergen seien teilweise erst um die drei Meter abgetragen worden – um nach Leichen zu suchen. Für Spangenberg ist klar: „Vale und der TÜV Süd sind Gesamtschuldner.“
In München war dies der erste und zugleich vorerst letzte Prozesstag. Die beiden Parteien sollen, so sagt die Richterin, nun schriftlich verschiedene Fragen beantworten. Auf eine Entscheidung müssen die Menschen aus Brumadinho und der TÜV warten – sie ist auf den 1. Februar 2022 angesetzt. Das kann ein Urteil sein oder aber die Verkündung, dass das Gericht weiter macht mit der Beweisaufnahme.