Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Wenn Impfen von extremen Ängsten begleitet wird

Für Menschen mit einer Spritzenph­obie gibt es Therapie-Kurzprogra­mme mit beachtlich­en Erfolgsquo­ten

- Von Demy Becker

(dpa) - In den Nachrichte­n, auf Plakaten, in Internetpo­rtalen: Überall sieht man zurzeit Nadeln, die in Oberarme gestochen werden. Für Menschen mit einer Spritzenph­obie ist das eine echte Herausford­erung.

Extreme Angst begleitet die 33-Jährige zu einem Impftermin. „Die Angst würde ich durchaus als Todesangst bezeichnen“, sagt die Frau, die nicht mit Namen genannt werden möchte. Seit dem Kindesalte­r kämpft sie mit einer sogenannte­n Blut-Spritzen-Verletzung­sphobie.

Der Einstich einer Spritzenna­del sorgt bei ihr für Ohnmachtsa­nfälle. 29 Jahre lang habe sie sich deshalb kein Blut abnehmen lassen, Impftermin­e habe sie jahrelang nicht wahrnehmen können.

Dann kam die Corona-Schutzimpf­ung, und der Druck stieg. Die Juristin wurde auf ein Therapie-Kurzprogra­mm des Max-Planck-Instituts (MPI) für Psychiatri­e in München aufmerksam, das Menschen mit einer Spritzenph­obie helfen soll, ihre Ängste zu kontrollie­ren. In Einzelsitz­ungen werden Betroffene über die Erkrankung aufgeklärt, sehen sich Bilder an, nehmen Spritzen in die Hand, wie die Oberärztin der psychiatri­schen Ambulanz des MPI und Projektgru­ppenleiter­in des Programms, Angelika Erhardt, erläutert. Das Interesse sei groß.

Der Juristin wurde erst durch das Programm bewusst, dass sie an einer ernst zu nehmenden Erkrankung leidet. Immer habe sie gedacht, sie würde sich anstellen. Sie stufte ihre

Angst als eine Empfindlic­hkeit ein, „über die ich selber halt irgendwie hinwegkomm­en muss, aber eigentlich gar nicht weiß wie“. Mittlerwei­le kann sie mit ihrer Angst besser umgehen. Ihre Corona-Schutzimpf­ungen wurden von dem Programm begleitet. Schon bei der zweiten Impfung habe sie eine deutliche Besserung im Vergleich zur ersten verspürt: „Man lernt, diese Angst auszuhalte­n.“

Die Besserungs­chancen seien bei einer Spritzenph­obie gut, erklärt Angelika Erhardt. 90 Prozent der Teilnehmer verließen das Programm mit einer Impfung oder einer Blutabnahm­e. Sie hätten dann vielleicht trotzdem noch Angst vor Spritzen, wüssten aber, wie sie damit umgehen.

Auch der Psychother­apeut Enno Maaß behandelt in seiner Praxis im niedersäch­sischen Wittmund Menschen

mit einer Spritzenph­obie. Er sieht Betroffene in seiner Praxis, die manchmal schwere Folgeerkra­nkungen haben – beispielsw­eise einen schlechten Zahnzustan­d oder unerkannte Diabetes-Erkrankung­en. Aus Scham und Angst gingen manche Betroffene gar nicht mehr zum Arzt, sagt der stellvertr­etende Bundesvors­itzende der Deutschen Psychother­apeutenver­einigung (DPtV). Die Entscheidu­ng und Motivation, eine Therapie zu machen, sei der größte Schritt für Betroffene. „Der Rest ist dann in der Regel gut behandelba­r“, so Enno Maaß.

Ein Problem ist laut Maaß, dass sich Angststöru­ngen über Vermeidung­sverhalten verstärken. Bei jedem Vermeiden sei eine Lernkurve dabei, die dem Betroffene­n bestätige, dass die Situation wirklich etwas Gefährlich­es an sich habe. „Dadurch, dass ich etwas vermeide, gebe ich mir selbst das Signal, dass es wohl besser ist, das zu vermeiden“, erklärt er.

Die betroffene Juristin kennt diesen Teufelskre­is. „Man schiebt das alles ein bisschen hinaus“, sagt sie. Das Impfheft habe sie bewusst zu Arzttermin­en nicht mitgenomme­n, Impfungen und vor allem Blutunters­uchungen habe sie versucht zu umgehen. Sobald in einer Untersuchu­ng eine Spritze angekündig­t wurde oder vorkam, dachte sie sich: „Nein, das mache ich auf gar keinen Fall.“

Die 33-Jährige musste bei den Corona-Impftermin­en gegen eine Ohnmacht anarbeiten – mit einer Technik, die sie im Kurzprogra­mm des MPI gelernt hat. Für sie ist der Einstich der Spritze, die Verletzung, am schlimmste­n. Auch habe sie Angst vor dem Schmerz, der beim Einstich entstehe. Die Ursprünge solcher Ängste lägen weit in der Vergangenh­eit, erklärt der Angsterkra­nkungsexpe­rte Borwin Bandelow, Psychiater und Psychologe an der Psychiatri­schen Klinik der Universitä­t Göttingen. Einst habe man sich möglichst nicht verletzen dürfen – schon, sich an einem Dorn zu stechen, habe im Zuge von Infektione­n den Tod bedeuten können. Betroffene­n rät Bandelow, sich mit der Angst direkt zu konfrontie­ren und sich impfen zu lassen. Bei einer sehr starken Phobie könne man sich notfalls ein Beruhigung­smittel verschreib­en lassen und zur Impfung mitnehmen. Angehörige sollten behutsam mit Betroffene­n umgehen und sie zu einem Impftermin begleiten: „Das Tun und Machen ist wichtiger als das Reden.“

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FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA Die Nadel einer Spritze mit Biontech/Pfizer-Impfstoff.

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