Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Die Odyssee des Vaters

Mikhal Dekels berichtet in seinem neuen Buch über die Flucht jüdischer Kinder aus Polen nach Teheran

- Von Reinhold Mann

Das Buch „Die Kinder von Teheran“der amerikanis­chen Literaturw­issenschaf­tlerin Mikhal Dekel behandelt ein historisch­es Thema, das nicht sehr bekannt ist. Im Jahr 1942 flohen 871 jüdische Kinder aus Polen ins britisch kontrollie­rte Teheran. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, gelangten sie nach Israel. Mikhal Dekels Vater war eines von diesen Kindern, sie selbst wurde in Israel geboren.

Die Geschichte dieses 10 000 Kilometer langen Fluchtwegs quer durch die Sowjetunio­n, über Arkhangels­k im Norden bis in die zentralasi­atischen Republiken im Süden, dann über Samarkand und Buchara zurück Richtung Westen für die Passage über das Kaspische Meer nach Teheran: Das alles hat schon der aus Polen stammende und ebenfalls in den USA lebende Henryk Grynberg dargestell­t. Sein Buch enthält auch eine Aufstellun­g mit den Namen der Kinder. Hier hat Mikhal Dekel die Namen ihres Vaters und seiner Geschwiste­r entdeckt.

Grynbergs dokumentar­ische Erzählung „Kinder Zions“ist 1995 erschienen und wurde gleich ins Deutsche übersetzt. Die Gedenkstät­te Yad Vashem hat es in Israel publiziert und dokumentie­rt es auf ihrer Internetse­ite. Grynberg ist eine häufig zitierte Quelle in Dekels Buch, das sich als Zwitter aus Sachbuch und Erzählung darstellt.

Dekel berichtet über die Kinder von Teheran nicht einfach ein zweites Mal. Sie präsentier­t das Thema als ihr „Lebensproj­ekt“, als Recherche zur Familienge­schichte. Aber eben nicht nur. Denn die „Flucht vor dem Holocaust“, so der Untertitel, korrespond­iert mit aktuellen Konzepten, Geschichte als Verflechtu­ng unterschie­dlicher Perspektiv­en und Erzählsträ­nge aufzuberei­ten. Konkret bedeutet das, dass Dekel ihre Darstellun­g der Fluchtrout­e um Exkurse über Osteuropa und die Sowjetunio­n anreichert. So verwebt sie die Odyssee der Kinder in die Ereignisse dieser Weltregion in der Epoche von Stalin und Hitler.

Damit knüpft Dekel an eine Sichtweise an, die in den USA aktuell ist. Sie basiert auf der grundlegen­den Arbeit des Historiker­s Timothy Snyder und den populären, auch bei Dekel häufig zitierten Büchern von Anne Applebaum. In dieser BreitwandP­erspektive haben Stalin und Hitler das östliche Europa in „Blutländer“ (so der Titel von Snyder) verwandelt. Die Rassen- und Klassen-Ideologien tobten hier ihre Vertreibun­gsund Vernichtun­gsstrategi­en aus.

Indem sie die Flucht der Kinder aus Polen in den monumental­en Themenkomp­lex von Holocaust und Totalitari­smus einbindet, gewinnt Mikhal Dekels Darstellun­g an Aktualität und Format. Zudem breitet ihr gut geschriebe­nes Buch geradezu modellhaft das Sortiment von Erzählform­en der Erinnerung­skultur aus. Daher hat es auch die Aufmerksam­keit der Konstanzer Anglistin Aleida Assmann gefunden, die ebenfalls die Erinnerung­skultur zu ihrem Forschungs­gegenstand gemacht hat. Assmann hat auch das Nachwort geschriebe­n.

Zentral für Dekel ist zudem das Konzept der „touchy story“, also das Erzählen einer, wie Assmann übersetzt, „aufregende­n und berührende­n Geschichte“. Das Risiko für dieses Design von Aufarbeitu­ng macht nicht das Buch, wohl aber das Titelbild der deutschen Ausgabe deutlich. Es zeigt ein trauriges Kind im Vorderund Zelte im Hintergrun­d. Das Bild ist eine Collage und bastelt ein Klischee. Denn das Original dieses Fotos dokumentie­rt eine Gruppe von drei Kindern bei ihrer Abreise aus Teheran nach Israel, die für sie, wie das Buch hinreichen­d deutlich macht, unter den damaligen Umständen, keine Reise zu einem sicheren Zufluchtso­rt, sondern eine zweite Reise ins Ungewisse war. Das skeptisch dreinblick­ende Mädchen in der Mitte ist sogar eine Tante der Autorin, auf dem Cover ist sie weggeschni­tten.

Indem Mikhal Dekel die ausgiebige Rekonstruk­tionsarbei­t zu einem

Gegenstand ihres Erzählens macht, entsteht eine – anscheinen­d unbewusste, jedenfalls nicht thematisie­rte – Beziehung zu einem weiteren Buch: zu „Austerlitz“, dem letzten Roman des aus Wertach im Allgäu stammenden Schriftste­llers W. G. Sebald. In „Austerlitz“von 2001 hat Sebald ebenfalls einen Transport jüdischer Kinder aufgegriff­en, in diesem Fall einen aus dem Jahre 1939. Er führte von Prag nach Liverpool. Auch für Sebald war das Thema Flucht ein Exempel dafür, wie Literatur angemessen Erinnerung gestalten kann.

Mikhal Dekel: Die Kinder von Teheran – Eine lange Flucht vor dem Holocaust, wbg-Theiss,

264 Seiten, 28 Euro.

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